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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

“Serail der Überraschungen“: Bärbel Holtkamp, Isolde Nagel, Ilse Niemack und Wolfgang Wiegand

Drei Zeichnerinnen und ein Zeichner in der Galerie des BBK Frankfurt

Von Andrea Wolf
(Ansprache zur Ausstellungseröffnung)

Sie arbeiten mit schwarzen, braunen Tuschelinien, Graphit- und Farbkreidestrichen, Acryl- und Aquarelllasuren auf Papier und collagierter Leinwand. Mit dem Titel der Ausstellung „Serail der Überraschungen“ wollen der Künstler und die Künstlerinnen ihren – auf den ersten Blick nicht sofort erkennbaren – gemeinsamen inhaltlichen Bezug zu ihren Arbeiten definieren. Obwohl ihre Zeichnungen sehr unterschiedlich wirken – wir befinden uns in ihren Bildern in einer oft anekdotisch verrätselten Welt – , zeigen sie bei näherer Betrachtung eine seltsame Nähe und Ähnlichkeit.

Es wird viel erzählt in diesem gemeinsamen Serail der Überraschungen, dennoch bleibt manches ungezeigt, unerklärt und zuweilen auch unverständlich. Außerdem sind die Bildinhalte gewollt vieldeutig. Alles könnte mit allem zu tun haben oder mit nichts. Sie treiben ganz bewusst ihr Spiel mit der „Lücke“, mit unserer Fantasie, den Gesetzen der Wahrnehmung und den Grenzen des Vorstellungsvermögens. Wenn wir diesen plaudernden Fabulierern mit ihren Tusche- und Kreidelinien in ihr „Sultanschloss“ folgen, sollten wir uns überraschen lassen wollen. Um die Wahl der jeweils unterschiedlichen Methoden und Techniken der einzelnen einordnen und verstehen zu können, möchte ich mich zunächst ein wenig mit dem Thema der Zeichenkunst befassen.

Zeichnung 1-11-16 001-450

Bärbel Holtkamp, “… oder bleiben”, 2011, Tusche, Acryl, Collage auf Papier, 38 x 48 cm, Foto: Bärbel Holtkamp

Warum und wozu wurde eigentlich gezeichnet?

Urzeitliche Felszeichnungen mit Kohle, Erden und Pflanzensäften erzählen davon, dass der Mensch sich schon sehr früh mit der ihn umgebenden Welt, seinem eigenen Leben, seinen Wünschen und Nöten zeichnerisch auseinandersetzte. Die gezeichnete Linie blieb über Jahrhunderte das Mittel der Anschauung, natürlich der Verständigung und führte auf den unterschiedlichsten Untergründen über die Zeichnung zur Schrift.

Im  Mittelalter dann wird die Zeichnung durch das Pergament zur Skizze und dient als vielleicht schnell skizzierter Entwurf überwiegend der Malerei und der Skulptur. Doch wichtiger wird sie in der Buchmalerei als Miniatur am Rand gezeichnet von wertvollen und seltenen Handschriften. Im 14. Jahrhundert – mit der Papierherstellung – entstehen die ersten Malschulen, Malregeln und die verschiedensten Techniken.

Mit der Renaissance, im 15. Jahrhundert, wird die Zeichnung durch die Erfindung der Zentralperspektive immer realistischer, bleibt aber weiterhin überwiegend einem handwerklichen Zweck untergeordnet: der Skizzierung von Motiven für Druckvorlagen im Holzschnitt und Kupferstich und wie schon erwähnt, der Malerei. Die immer noch sehr seltenen, eigenständigen Zeichnungen zeigen allerdings bereits in ihrer Ausführung großes technisches Können und inhaltliche Tiefe – denken Sie an Dürer – ,  können sich aber noch nicht gegen die sehr stark verbreiteten Drucke behaupten.

Dies ändert sich allmählich und erst im 18. Jahrhundert. Es entwickelt sich ein breiteres Interesse an der Zeichnung – auch durch die Erfindung von Buntkreiden und Pastellfarben, die zu einer  größeren gestalterischen Vielfalt anregen. Portrait- und Landschaftszeichnungen werden immer beliebter und finden mehr Beachtung. Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich dann die Regeln und Grenzen zwischen Malerei und Zeichnung aufzulösen. Die Bedeutung der Linie verschwindet manchmal völlig und weicht den Punkten wie im Pointilismus oder den gemalten Flächen des Impressionismus.

Im Expressionismus wird die Linie wiederum besonders wichtig, ja gerade zu einem dramatischen Ausdrucksmittel, und ob ein Bild eine Zeichnung ist oder Malerei, lässt sich nicht mehr festlegen. Die Linie steht alleine und wird manchmal sogar zu einem großen Farbfeld. Sie ist noch immer rund und weich mit großem Schwung, der alten Regel der Renaissance folgend, darf jetzt aber auch die Linien der Architektur verwenden, eckig mit spitzen Winkeln, starr oder in geometrisch, verwirrendem Chaos enden. Gestalterische Freiheit bricht Bahn für neue Wege und Formen: rasterähnliche Punkte, Quadrate, Rechtecke und Dreiecke werden gestalterisch eingesetzt. Auch die Schraffur gewinnt eine größere und andere Bedeutung. In der jeweiligen Verwendung dieser vielen unterschiedlichen linearen Formen, ihrer Betonung, Wiederholung oder Auslassung, entwickelten sich sehr unterschiedliche und individuell geprägte, manchmal sogar psychologisch gedeutete „künstlerische Handschriften“.

Den Handschriften der hier ausstellenden Künstler möchte ich Sie nun nahe bringen.

Zeichnung 2-11-16 001-450

Bärbel Holtkamp, “Nicht erwartet”, 2011, Tusche, Acryl, Collage auf Papier, 38 x 48 cm, Foto: Bärbel Holtkamp

Ich beginne mit Bärbel Holtkamp, ausgebildet in Berlin mit dem Studium der freien und angewandten Kunst. Sie lebt und arbeitet als freie Künstlerin in Frankfurt am Main. Sie malt abstrakt-expressionistisch und zeichnet mit unterschiedlich starken Tuschelinien eine: ich zitiere: „detailverliebte, verschroben verschobene Scheinwelt und Widersprüchliches. Schlossähnliche Gebäude scheinen zu schweben, Perspektiven zu kippen, Treppen führen ins Leere. Überall kriecht, fliegt, stelzt, liegt und wandert „lebendig Verkehrtes“. Alles scheint es im Überfluss zu geben, aber am falschen Platz. In dieser Flut von Linien, Punkten, schachbrettartigen Flächen, diesem zerrissen wirkenden und detailversessenen Universum, vermitteln die Figuren oft ein Zögern und Unentschlossenheit. Die Szenerien wirken mehrdeutig und vielleicht sogar falsch. Reales wird irreal.

In den sauren Apfel beißen-650

Isolde Nagel, “Auch in den sauren Apfel beißen”, 2011, Tusche, Aquarell auf Papier, 30,8 x 43 cm, Foto: Frank Kress

Isolde Nagel, staatlich geprüfte Gestalterin, arbeitet freiberuflich als Zeichnerin und Edelmetallgestalterin in Rodenbach. Die feinen Geflechte ihrer Federzeichnungen, die vibrierenden Linien aus Graphit- und Farbkreide- Strichen werden aufgefangen von zart schimmernden Schlieren und tauchen ab in durchsichtige Farbseen. Magische Formfragmente schweben durch seltsame Kraftfelder und verwandeln sich in verkürzte Umrisse einer lebendigen Gestalt. Längst versunkene Erinnerungen vernetzen sich mit Momenten und Motiven des erlebten Alltags. Sie regen eine vagabundierende Fantasie an, die offen bleiben soll für viele neue Einfälle. Denn beim nächsten Betrachten, könnte alles wieder ganz anders sein.

Streitbarkeit-600

Isolde Nagel, “Streitbarkeit”, 2011, Tusche, Aquarell, Farbkreide auf Papier, 29,7 x 42 cm, Foto: Frank Kress

Ilse Niemack lebt und arbeitet als freie Künstlerin in Offenbach und studierte Kunst sowohl in Leipzig als auch in Stuttgart an der Akademie der Bildenden Künste. Ihre Schwerpunkte sind Tuschezeichnungen, Collagen, linear-gestische Aquarell- und Acrylmalerei. Ihre mit feinen Tuschelinien gezeichneten semi abstrakte Gestalten, Dämonen, Vogelmenschen, Schlangenleiber und Figurengewächse, beleben wie von einer geheimnisvollen Hintergrundmusik verführt, das Papier. Mit fein gesponnener, innerer Geladenheit sind sie überall. Daher rollend, tanzend, flirrend, wirbelnd, verweben sie sich miteinander, geraten immer wieder außer sich und verlassen die Form. Sie wollen überall sein, Allem nah sein.

Nirgends ein festes Stehen oder sicheres Liegen. Alles ist Bewegung, formt neue Muster und erschließt weitere Möglichkeiten.

Zeichnung Ilse 1-16-b 001-600

Ilse Niemack
↑ “Im Getümmel”, 2011, Tusche auf Papier, 13 x 19 cm
↓ ”Ein mühsamer Weg”, 2011, Tusche auf Papier, 13 x 19 cm
Fotos: Ilse Niemack

Zeichnung Ilse 2-16-b 001-600

Wolfgang Wiegand ist Porzellanmaler und Zeichner. Er lebt und arbeitet als freier Künstler in Frankfurt am Main. Seine Vorliebe gehört den „konstruierenden Perspektiven“. Seine mit dünnen Tuschestrichen gezeichneten, scheinbar geometrisch geordneten Traum-Labyrinthe, sind einer seltsamen Wandlung ausgesetzt. Immer wieder teilen sie sich in helle und dunkle Flächen, werden zu Dreiecken oder anderen  geometrischen Formen oder Schraffuren. Linien geben bei ihm ihre Funktion der Ordnung auf und führen uns in die Irre, in imaginäre Räume, zu Treppen ins Nichts. Schachbrett- und rasterartige Formen umwuchern menschliche und pflanzliche Gestalten, werden zu Maschinenteilen und scheinen den Ausbruch zu planen.

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Wolfgang Wiegand
↑ “Augenblicke”, 2007, Mischtechnik auf Papier, 32 x 24 cm
↓ “Häuserlandschaft II”, 2007, Tusche, Graphit auf Papier, 30 x 40 cm
Fotos: Oliver Wiegand

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Und nun darf ich Sie einladen, das Gehörte zu überprüfen, zu suchen, zu bestätigen, vielleicht auch in Frage zu stellen, denn in den hier gezeigten Zeichnungen werden Sie einige Merkmale jener eben beschriebenen linearen Formen und damit auch den bewußten Einsatz derselben – zur Verstärkung des jeweilig individuellen künstlerischen Ansatzes – entdecken können. Und damit auch die Abgrenzung zu jener anderen unverwechselbaren sogenannten „künstlerischen“ Handschrift. Die hier ausstellenden Zeichnerinnen und Zeichner zeigen ihre Vorliebe zur „erzählenden Linie“. Sie führen uns zu ihren Scheinrealitäten, zu Rätseln und Widersprüchen. Zu Irritation, Störung und Verunsicherung, aber auch zum Schmunzeln und mit Sicherheit auch zu einer etwas anderen Sicht.

„Serail der Überraschungen“, BBK Frankfurt, bis 17. April 2016

Am Sonntag, 17. April 2016, 11 Uhr, findet eine Matinee mit dem Thema „Über Lust und Reiz am Entstehen und Vergehen” statt, organisiert und moderiert von Barbara Hennings

 

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