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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

ZONTA Art Contemporary 2016 an Benedikte Bjerre

Im Rahmen der fünften Verleihung des Preises ZONTA Art Contemporary (ZAC) im Frankfurter Museum Angewandte Kunst MAK, das dankenswerter Weise seinen Vortragssaal zur Verfügung stellte, feierte der ZONTA Club Frankfurt II Rhein-Main das Jubiläum „10 Jahre ZAC“. Zugleich würdigte er die Leistungen und Verdienste von Jutta Heun, freischaffende Künstlerin, vormalige ZONTA II-Präsidentin und Gründerin des Kunstpreises, die sich im Laufe des Jahres aus dem Kreis des Club-Kunstteams verabschieden wird, um sich künftig vor allem ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit in Südspanien und ihrem „Kunsthaus am Lohrberg“ widmen zu können. Den alle zwei Jahre verliehenen, mit 2400 Euro dotierten Preis erhielt (nach Anke Röhrscheid, Ellen Poppy, Anne Imhof und Eva Weingärtner) am 19. März 2016 die Städelschul-Absolventin Benedikte Bjerre.

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Preisträgerin Benedikte Bjerre und Laudatorin Jutta Heun

Jutta Heun
Laudatio auf die Preisträgerin Benedikte Bjerre

Benedikte Bjerre ist eine Beobachterin. Sie nimmt begierig alle Eindrücke ihrer Umwelt auf, um sie in ihr Werk zu integrieren. Um in einem Bild zu sprechen möchte ich sagen: „In ihr steckt ein Staubsauger für Wahrnehmungen“.

Geschult wurde dieser Blick durch ihre Studien, der Soziologie in Dänemark, der Kunst in Frankfurt am Main und Kopenhagen.

Über die Fotografie kam sie, beeinflusst von Peter Fischli, zur Bildhauerei. Sie bezeichnet diese Begegnung als Glück, haben Peter Fischli und David Weiss doch selbst einzigartige, nachhaltige Kunstwerke geschaffen.

Benedikte Bjerre sagt, sie ist eine Bildhauerin. Nun stellt man sich landläufig eine Bildhauerin schwer arbeitend mit Holz, Metall oder Stein vor, bei Benedikte Bjerre sehen wir erneut, dass der Rahmen dieser alten Vorstellungen längst gesprengt ist.

Adorno mahnte noch vor der „Verfransung der Kunst“, er konnte nicht ahnen, dass die Grenzen zwischen den Kunstgattungen nicht nur fließend, sondern seit 1975 fast gar nicht mehr vorhanden sind. Es setzte eine Individualisierung des Kunstmarktes ein, die bis heute anhält. Avantgarden wird es nicht mehr geben, und Künstlerinnen haben längst eine eigene Geschichte und müssen mit ihren aktuellen Arbeiten nicht mehr Bezüge zu männlichen Kollegen suchen.

Beim ersten Blick auf die künstlerische Arbeit von Bendikte Bjerre zog ich Parallelen zu Jessica Stockholder. Doch bei näherer Betrachtung wird der physische Bezug der Materialen von Benedikte Bjerre so stark zum Ausdruck gebracht, dass ich bemerkte, wie sehr die Arbeiten mit der Gegenwart verbunden sind. Stockholder bezeichnet sich selbst als Malerin, sie malt mit gefundenen Gegenständen Räume aus, schafft Rauminstallationen und Objekte. Benedikte Bjerre arbeitet mit Versuch und Irrtum, mit Vorhandenem und Gefundenem, an ihren Arbeiten ist nichts transparent, wie etwa in einem Aquarell. Sie arbeitet mit Beobachtung, mit einem Raum, einem Ort, einem Rahmen, einem Material.

Viele Arbeiten beginnen mit einer Faszination für bestimmte soziologische Ereignisse.

Die Arbeit „Hot Products“ von 2015 begann mit der Faszination für Ladendiebstahlsspiegel. Frau Bjerre beobachtete, dass diese in Deutschland mehr als anderswo vorhanden sind. Sie werden aufgehängt, um die Vermeidung des Stehlens zu legitimieren. Man blickt in den Spiegel, während man an einer Kasse wartet.

Einige Monate später sah sie in Kalifornien überdimensionale Lutscher, sie erschienen ihr seltsam, da sie eine Größe hatten, die nicht für Kinder geeignet waren.

Abb. 1

Hot Products (2015), styrofoam, Dunlop tennis ball, steel with epoxy/polyester powder coating, original Gourmet Lollipop, lollipop tree display, plastilin, plastic strips, cord, energy light bulb, elastic bungee, 101 x 60 x 189 cm; Bildnachweis: Benedikte Bjerre

Einige Zeit nachdem sie begann, über historischen Ladendiebstahl zu lesen, brachte ihr ein Freund Booster-Taschen mit, die von der Polizei konfisziert waren. Viel später wurde sie gebeten, an einer Ausstellung in Wien teilzunehmen, und der Raum dort erschien ihr geeignet, mit Lutscher und Spiegel zu arbeiten. Alle Eindrücke haben sich noch verändert, die Arbeit wurde dann in einem Studio fertiggestellt.

Jutta Heun: Frau Bjerre, könnten Sie uns etwas über die Entstehung Ihrer Arbeit „Prime“ von 2015 sagen?

Bendikte Bjerre: Die Arbeit entstand während meines Aufenthalts in der Villa Aurora in Los Angeles. Da ich so viel unterwegs war kam ich auf die Idee, das Material für ein Kunstwerk bei Amazon zu bestellen. Das Bestellen bei Amazon ist überall kostenlos verfügbar und kann weltweit genutzt werden. Die Arbeit weist direkt hin auf eine Art des Konsums ohne soziale Kontakte. Es wird produziert von Maschinen, ausgesucht und verpackt von Maschinen und bald wird es von Drohnen geliefert. Die bestellten Dinge stellen eine De-Humanisierung der Welt der Objekte dar, das steht im Gegensatz zur Kunst, sie wirkt traditionell als Bindeglied zwischen der Welt der Objekte und der Welt der Menschen. In verschiedenen Ländern kann die Skulptur mit anderem, dort spezifischem, bestelltem Material neu entstehen. Amazon bietet eine kostenlose Rücknahme innerhalb von 30 Tagen an. Innerhalb dieser Zeit kann die Arbeit zugänglich sein und international kostenlos installiert werden. Das Material ist nun zurück im Kreislauf von Amazon und kann von anderen Leuten genutzt werden.

J.H.: Ich kenne einige Bilder Ihrer neuen Arbeiten von 2016. Für mich sind die großen Schwarzkirschen sehr interessant. Sie erinnern mich an meine Kindheit, wie ich mit Kirschen an den Ohren auf dem Fahrrad unterwegs war. Sie glänzen so schön, wie frisch geputzt, so lackiert. Sind Ihre Kindheitserinnerungen auch darin verpackt?

B.B.: Es gibt tatsächlich ein Ereignis aus der Kinderzeit, mit kleinen Plastikkirschen in einem Supermarkt. Sie lagen auf dem Boden, wie Abfall, und ich nahm welche mit. Erst später erfuhr ich, dass sie zum Verkauf dort waren.

J.H.: Was geschieht, wenn eine Arbeit uninteressant ist?

B.B.: Manchmal funktioniert es überhaupt nicht. Es dauert, bis eine Arbeit entsteht, und ich suche so lang, bis es für mich stimmt.

Abb. 2

Prime (2015), Amazon Prime packaging, Frogtape, Whitmor shopping cart, FedEx envelope, plaster, Blue avocado product bag, Meyer lemons, plasterboard, Rubbermaid water cooler, water, cone cups, Keeble laundry bag, Nite Ize gear tie, styrofoam parrot, popcorn, dried green beans, size variable; Bildnachweis: Benedikte Bjerre

Benedikte Bjerre ist also auch eine Formensucherin. Wenn eine Arbeit uninteressant, unstimmig ist, sucht sie über längere Zeit nach dem richtigen Ausdruck. Sie hat die Sensibilität, Gefühle, Gedanken und Dinge in eine Form zu bringen. Alles flutet durch ihren Gedächtnisraum und wird in ihren Kunstwerken sichtbar. Sie ist unterwegs – und wir lassen uns weiter überraschen mit ihren Arbeiten.

Entscheidung der Jury für Benedikte Bjerre als Preisträgerin des ZAC-Preises 2016

Der künstlerischer Weg, den Benedikte Bjerre in den Jahren ihrer Ausbildung, nach dem Soziologiestudium in Kopenhagen, nach dem Abschluß an der Städelschule in Frankfurt und aktuell an der Royal Academy of Fine Arts Copenhagen gegangen ist, wertet die Jury positiv als Weg klarer und durchaus zielgerichteter Entscheidungen der Künstlerin.

Ihre Arbeiten haben einen starken Gegenwartsbezug, ihre Reflektionen des Alltags spiegeln aktuelle gesellschaftliche Phänomene. Es gelingt ihr, sehr unterschiedliche, humorvolle und überzeugende Kompositionen zu gestalten. Ihre Ausdrucksformen weisen eine große Bandbreite auf, die von Fotos über Skulpturen aus unterschiedlichen gesuchten oder gefundenen alltäglichen Gegenständen bis hin zu raumgreifenden, ortsbezogenen Installationen reicht. Die Titel spielen dabei eine wichtige Rolle. Ihre Kunstwerke können als eine Weiterentwicklung des Ready mades gesehen werden.

Der Jury ist einstimmig der Meinung, dass in Benedikte Bjerres Arbeiten ein großes künstlerisches Potential sichtbar wird, das trotz des Alters der Künstlerin bereits eine große Reife aufweist. Man kann auf die Weiterentwicklung ihrer künstlerischen Arbeit gespannt sein.

Die Juroren für die Preisvergabe 2016

Vorschlagende Jury: Professor Heiner Blum, Hochschule für Gestaltung Offenbach, Peter Gorschlüter, stellvertretender Direktor des MMK Frankfurt, und Jutta Heun, Kunstteam ZONTA II Frankfurt Rhein-Main

Auswählende Jury: Stefanie Böttcher, Leiterin der Kunsthalle Mainz, Brigitte Maurer, Galeristin in Frankfurt am Main, und Silke Schuster-Müller, Leiterin der Kunstsammlung DekaBank

Benedikte Bjerre

wurde 1987 in Kopenhagen geboren. Sie studierte von 2006 bis 2009 in ihrer Heimatstadt Soziologie und ab 2009 an der Frankfurter Städelschule bildende Kunst bei den Professoren Simon Starling und Peter Fischli, dessen Meisterschülerin sie wurde. Im vergangenen Jahr erhielt sie von der Villa Aurora und der Studienstiftung des deutschen Volkes ein Stipendium für einen Aufenthalt in der Künstlerresidenz in Los Angeles.

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ZONTA Art Contemporary ZAC: das Kunstteam von ZONTA Frankfurt II Rhein-Main: (v.l.) Bettina von Bethmann, Jutta Heun, Brigitte Maurer

Fotos (soweit nicht anders angegeben): Erhard Metz

 

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