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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Der Brückenbauer Karl Dedecius (†)

Der Friedenspreisträger, Übersetzer und Herausgeber polnischer Literatur, Professor Karl Dedecius, wurde 2011 im Aachener Kaisersaal mit dem Polonicus ausgezeichnet. Verliehen wird der Preis vom Polnischen Kongress an Menschen, welche die polnische Kultur in Deutschland pflegen und gestalten. Anlässlich des Todes von Karl Dedecius veröffentlichen wir ein Interview, das Petra Kammann für die Zeitschrift …IN RHEINKULTUR (2/2011) mit ihm führte.

Petra Kammann: Sie gelten als der Vermittlerpolnischer Literatur und Kultur in Deutschland, weil Sie polnische Autoren in die deutsche Sprache übersetzten. Sie wurden 1921 als Sohn einer deutschstämmigen Familie, einer schwäbischen Mutter und eines böhmischen Vaters, in Łódź geboren und wuchsen dort zweisprachig auf. 1943 gerieten Sie in russische Gefangenschaft und lernten Russisch. Als Sie 1952 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelten, waren Sie zunächst bei einer Versicherung angestellt. In Ihrer Freizeit widmeten sie sich Ihrer Leidenschaft, der Übersetzung polnischer Literatur. Schon 1959 erschien Ihre erste Anthologie „Lektion der Stille“. Dabei übersetzten Sie „nach Feierabend“ u.a. so herausragende polnische Autoren wie Zbigniew Herbert und die Nobelpreisträger Czesław Miłosz und Wisława Szymborska. Woher hatten Sie ein so untrügliches Gespür für Literatur?

Karl Dedecius: Polen ist die Landschaft meiner Kindheit und Jugend: Die Schulen dort, die Lektüren, die ersten Abenteuer bis zur Reife in Łódź, in dessen einmaligem Klima des Zusammenlebens, Zusammenarbeitens, ja der Interessengemeinschaft von zumindest vier unterschiedlichen Ethnien, Glaubensbekenntnissen, Kulturen, Geschichtserfahrungen. Kindheit und Jugend sind prägend im Leben eines jeden; Erfahrung, Bildung und Ausbildung bleiben wirksam fürs ganze Leben. Daher das besondere Gespür für das „Andere“, für das andere Sprechen, Denken, Musizieren, Empfinden, Benehmen.

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Karl Dedecius, Foto © Petra Kammann

Welchen Einfluss auf Ihre Entwicklung hatte es, dass Sie in Łódź aufgewachsen waren und was bedeuteten Ihre Mittlerversuche in der Zeit des Kalten Krieges?

Was bleibt von der intimen Teilnahme am Leben in Polen (20 Jahre), in Russland (10 Jahre), in Ost und West, Süd- und Norddeutschland (60 Jahre)? Die Erkenntnis, dass „der Mensch“ eigentlich überall auf der Welt Ähnliches sucht, will, Ähnliches träumt, genießt, an Ähnlichem leidet, dass er aber durch seine inneren Dispositionen – oft mangelhaft ausgebildet, egozentrisch deformiert – den gemeinsamen Nutzen verlernt, durch äußere kollektive Zwänge in Konflikte und Kollisionen gerät und blindgeworden, orientierungslos in Katastrophen stolpert. Die Vernunft belehrt uns immer wieder – nach den sich wiederholenden Kalten und Heißen Kriegen – den Ausweg woanders zu suchen: Im Zusammenschluss der zerstrittenen Partikel zu einer Interessensgemeinschaft der Vernunft. Hier zwang mich meine Herkunft, die Mittlerrolle als Lebensziel inter nationes anzustreben.

Weit vor der Wende, 1979/1980, initiierten Sie das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt. Hatten Sie dabei ein Vorbild vor Augen? Sollte es mehr eine deutsch-polnische Begegnungsstätte oder ein Literaturinstitut werden?

Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt hatte inhaltlich und formal kein Vorbild. Das war die Schwierigkeit, aber auch der Reiz. Man durfte eigenen Visionen folgen, ein eigenes Modell entwickeln, die Phantasie betätigen, erfinderisch sein. Es ging von Anfang an nicht um ein neues Fachgremium, nicht um eine „Amtsstube“, sondern um einen fast „privaten Familienbetrieb“, ausgerichtet und eingerichtet als „Werkstatt“ für die Völkerverständigung und Frieden, eine Kontaktstelle für das künftige neue Zusammenleben der beiden Völker in Europa. Es ging um die Herstellung und um die Pflege des Vertrauens, das die Völker brauchen, um wieder in normale Bahnen der zwischenmenschlichen Kommunikation zurückzufinden. Da schien mir die Kultur als Werkstoff, als Bindemittel das aussichtsreichste und zuverlässigste. Die Literatur, also Verlage, Autoren, Lektoren, Übersetzer, Schulen, Universitäten, erschien mir, da politisch weniger vorbelastet, als geeignetes Verständigungsfeld: Über den Austausch ihrer bewährten Inhalte und Formen können Bücher den Zugang zu Autoritäten und Vertrauensträgern öffnen, am Ende sogar zu Freundschaften führen. Dieser bescheidene kleine intellektuelle Grenzverkehr erwies sich tatsächlich – jenseits oder unterhalb der immer noch nicht zur Ruhe kommenden politischen Zwiste oder Missverständnisse – als hilfreich. Mir standen dafür zufällig die geeigneten Voraussetzungen zur Verfügung: Großgeworden in der Vielvölkerstadt Łódź, von Klein auf natürlicherweise und wie selbstverständlich vertraut mit vier Sprachen, vier Kulturen, vier verschiedenen Völkern, die zu einer produktiv intakten Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft bereit, fähig und darin erfolgreich waren. Daher die Kraft und Optimismus spendenden Energiequellen dieser kommunalen Neugründung Łódź – mitten in Polen und multinational.

Im Suhrkamp Verlag legten Sie den Grundstein für die „Polnische Bibliothek“. 50 Bände entstanden zwischen 1982 und 2000. Woran haben Sie sich beim Zusammenstellen des Kanons orientiert?

Mein Kanon der Sammlung von Texten, Zeugnissen der polnischen Geschichte, Kultur, Literatur war am Anfang nichts anderes als erinnerte Schullektüre (am Humanistischen Gymnasium), erweitert mit der Zeit um einige Entdeckungen und private Erfahrungen. Das waren Ansätze, von Jahr zu Jahr reicher, erwachsener geworden. Das Schicksal hat mich nicht geschont, dafür aber auch in vielfacher Hinsicht reichlich entschädigt.

Außerdem pflegten Sie private Kontakte zu polnischen Autoren. Ihr persönliches Archiv samt Korrespondenz übergaben Sie der zweisprachigen Univsersität Viadrina in Frankfurt an der Oder? Wurde das für Sie zu einem symbolischen Ort?

Symbole lagen mir gewissermaßen auf Schritt und Tritt zu Füßen. Frankfurt/Oder ist eins der vielen Stichworte für eins der vielen Beispiele. Hier vollzog sich – erzwungen durch den Krieg – mein Übergang von Ost nach West in Europa. Nach 1939 wurde ich, frischgebackener Abiturient aus Łódź, deutscher Soldat, in Frankfurt/Oder kaserniert und alsbald an die Front nach Stalingrad geschickt. Hier in den letzten Tagen verwundet, durch verschiedene Genesungs- und Arbeitslager in Zentralrussland geschleppt, wiederum mit vielen Menschen, Kulturen und Arbeitsplätzen konfrontiert, kam ich nach sieben Jahren in die Freiheit: nach Frankfurt/Oder. Dieses Frankfurt und die Oder, zu ihrer Brückenfunktion von der Deutschen Universität am westlichen Ufer über die Brücke an das andere Ufer, wo sich gleich in Flussnähe das Polonicum der Posener Universität befindet. Beide Universitäten hegen und pflegen dankenswerterweise gemeinsam meinen literarischen Nachlass.

Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, 1990, erhielten Sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – für einen literarischen Übersetzer doch eine eher ungewöhnliche Ehrung. In Polen bekamen Sie als Deutscher die höchste Auszeichnung, den Orden des Weißen Adler. Was haben Sie dabei empfunden? Und wie hat das Ihr weiteres Leben beeinflusst? Wurde dadurch manches leichter?

Die Auszeichnungen, die literarischen und die kulturpolitischen von beiden Seiten, haben mein Leben nicht beeinflusst, aber meine Arbeit bestätigt; dass es einen Weg in die Gemeinschaft gibt, dass ich ihn für mich gefunden und richtig genutzt habe – und dass mich das entschädigt, und, ja, beglückt. Leichter ist mein Leben dadurch nicht geworden. Eher schwerer.

Sie erhielten in diesem Jahr im Aachener Krönungssaal den Polonicus, den Preis für Brücken nach Polen. Ihre Rede hielten Sie auf Polnisch. In welcher Sprache fühlen Sie sich heute eigentlich zu Hause?

Meine Gelegenheitsreden halte ich je nach Ort und Gelegenheit in beiden Sprachen. Durch den lebenslangen Umgang mit Deutsch und Polnisch in der besten Gesellschaft – der Dichtung beider Länder – sind sie mir im Kopf und im Gemüt vertraut geblieben. Zu Hause bin ich in beiden Sprachen.

→ Breslau / Wrocław: Europäische Kulturhauptstadt 2016

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