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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Zwischenräume“: Stabplastiken von Astrid Lincke-Zukunft in der Galerie Das Bilderhaus

Verwandlung, Verwirrung und schwebende Zustände –
die „durchsichtigen“ Raumobjekte von Astrid Lincke-Zukunft

Von Heike Roller

Wer die Räume der Galerie betritt erkennt recht schnell: hier geht es um die Themen Linie, Raum, Licht und deren Beziehung zueinander. Was ist eine Linie? Eine Linie ist eine Bewegung. Eine zweite Linie, die die erste kreuzt, schneidet in diese Bewegung und definiert einen Ort. Liniennetze und Gittergebilde bilden häufig komplexe Systeme, die unseren Alltag prägen und hoch entwickelte kulturelle Perspektiven auf die Welt darstellen. Astrid Lincke-Zukunft hat diesen auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunst mit ihren Stabplastiken einen ganz eigenständigen Beitrag hinzufügt.

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Rot im Schwarz, Foto © Astrid Lincke-Zukunft/Dieter Lincke

Dabei sind vor allem zwei Dinge von grundlegender Bedeutung:

Zum einen fügt die Künstlerin beim Aufbau der Stabplastiken die von ihr verwendeten Stäbe nie über Kreuz, sondern nur an deren jeweiligen Enden aneinander. Einige später geklebte Kreuzungspunkte der Linien dienen als feste Verbindung nur der Fixierung und der statischen Absicherung der plastischen Konstruktion. Die meisten Kreuzungen sind jedoch rein optischer Natur und entstehen, abhängig vom jeweiligen Standpunkt, allein im Auge des Betrachters. Zum anderen baut die Künstlerin in der Linienführung ihrer Stäbe keine rechten Winkel (bestenfalls zufällig), die übrigens auch die Natur nicht kennt.

Formal betrachtet scheint hier dennoch eine Ähnlichkeit mit konstruktiver Kunst zu bestehen. Doch der Ansatz, die Vorgehensweise und damit auch die Ergebnisse sind bei Astrid Lincke-Zukunft ganz anderer Art. Die Konstruktion der Stabplastiken wird nicht vorher festgelegt, sie basieren nicht auf einem abgeschlossenen Konzept oder vorgefertigten Skizzen und sind auch nicht aus im Vorfeld berechneten geometrischen Formen aufgebaut.

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Blauer Kubus, Foto © Astrid Lincke-Zukunft/Dieter Lincke

Was konstruiert wirken mag, entsteht spielerisch und spontan erst während der Arbeit. Normalerweise steht am Beginn ein plötzlicher Einfall, ein Impuls dem nachzugehen ist, oft auch die Neugier, wie es mit einer sich abzeichnenden Idee im Kopf wohl weitergehen wird.

Der Aufbau der Stabplastiken vollzieht sich schließlich Stufe für Stufe, bei dem das jeweils neu Hinzukommende immer auf das bereits Vorhandene reagiert. Es ist ein offener Entstehungsprozess, der sich zwar an die Regeln der Statik halten muss, aber, abgesehen davon, durch und durch von der Intuition der Künstlerin geprägt ist. Abgeschlossen ist er erst dann, wenn Werk und Künstlerin in ihrer Zwiesprache sich einig sind, dass es soweit ist.

Meistens arbeitet die Künstlerin an mehreren Plastiken gleichzeitig. Es ist eine organisch geprägte Vorgehensweise, fließend wechseln sich dabei kreative und handwerkliche Arbeitsgänge ab.

Astrid Lincke-Zukunfts Arbeiten sind auch nicht minimalistisch zu nennen, selbst wenn einem das angesichts ihrer so reduzierten Materialität in den Sinn kommen mag. Sie strahlen keine aus dem Willen zu äußerster Beschränkung herrührende Strenge aus. Die Stabplastiken zielen auch nicht ab auf eine Reduzierung des Raumes, wollen keinen Rückgang auf seine Essenz. Vielmehr geht es darum, seinen potentiellen Reichtum zu entfalten und eine Ahnung der unerschöpflichen Vielfalt seiner formalen Möglichkeiten zu vermitteln.

Die transparenten, fragilen Liniengebilde der Künstlerin sind also bewusst angereichert mit einer sich immer weiter entwickelnden Freiheit im Umgang mit den Raum, mit viel Lust am Experiment und am Spiel, am Öffnen und Offenhalten der Wahrnehmung, am Ausloten, Austarieren und Ausreizen von statischen Möglichkeiten.

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↑ Grüner Stern
↓ Parallel
Fotos © Astrid Lincke-Zukunft/Dieter Lincke

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Astrid Lincke-Zukunft hat an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert und als Grafikerin und Grafikdesignerin gearbeitet. Der künstlerische Umgang mit der Linie erscheint da naheliegend. Doch ihr Weg zu den Stabplastiken ist interessant genug, um einen kurzen Blick darauf zu werfen.

Ihr Vater Johann Zukunft war avancierter Insektenkundler, seine Schmetterlingszüchtungen und Sammlungen weckten bei ihr ein frühes Interesse für Transformationsvorgänge, für die fest verpuppten Hüllen und Gehäuse, in denen sich verborgene und geheimnisvolle Wandlungen vollzogen.

Das Thema der Verwandlung bestimmte als figürliches Motiv dann schon die frühen, zeichnerischen Arbeiten und zog sich fortan wie ein roter Faden durch ihr Werk. In den ersten plastischen Arbeiten ab 1981 verdichtete sich der Wandlungstopos zu geschlossenen Körpern, darunter wehrhaft anmutende Torsi und panzerartige Kokons. Deren zunächst organisch-weiche, an die Natur angelehnte Linienführung wurde schließlich immer abstrakter, härter. Kanten, Risse, Spalten und Schnitte rückten in den Fokus und die Formen der künstlerischen Arbeiten wurden insgesamt sparsamer und klarer.

Ein entscheidender und überaus emanzipativer Schritt war es dann, die Gebilde nicht nur aufzubrechen, sondern den gewünschten Durchblick radikal zu gestalten und eine höchstmögliche Transparenz herzustellen. Die geschlossenen, intransparenten Körper verloren ihre „Haut“ und ihr „Fleisch“, übrig blieb im übertragenen Sinne nur das Skelett, die alles tragende Konstruktion. Ab 1987 entstanden die ersten Stabplastiken, luftig-durchsichtige Gebilde, mit nun geometrischer Linienführung, aus Holz oder Metall in den Raum gezeichnet.
Nichts ist nun mehr verborgen, aber das Verwirrende, der Schwebezustand, der mit dem Momentum der Verwandlung verknüpft ist, das alles ist immer noch da. Wie das?

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Untergeschoben, Foto © Astrid Lincke-Zukunft/Dieter Lincke

Die über ihre Enden in Winkeln miteinander verbundenen Stäbe konstituieren durch ihre Linienführung räumliche Gebilde. Wir erkennen bekannte Formen, zwei- und dreidimensional ausgerichtete geometrische Einheiten: Dreiecke, Vierecke und Vielecke; Zacken, Rhomben, Trapeze, Parallelogramme, und einfache oder hochkomplexe kubische Strukturen. Sie werden ineinander gesteckt, verschoben, verhakt und verdreht, miteinander verkettet oder auch nebeneinander zu mehrteiligen Installationen arrangiert. Unser Auge, unser Gehirn und vor allem unser auf Eindeutigkeit ausgerichteter Orientierungssinn bekommen einiges zu tun.
Wir sehen hängende, liegende oder frei stehende Raumplastiken, die unser Blick zwar ohne störende Abdeckungen buchstäblich „durch“-schauen kann, die sich einer abschließenden Wahrnehmung aber immer wieder entziehen. Denn jede sich geradezu aufdrängende Veränderung der Betrachterposition erzeugt mehr oder weniger gravierende Verwandlungen des Betrachteten. Linien verlängern oder verkürzen sich, gefährlich spitze Winkel werden plötzlich stumpf, bestimmte Blickachsen verschieben sich oder verschwinden ganz, neue tauchen auf. Den „besten“ Blick, also die eine „ideale“ Perspektive auf die Objekte gibt es nicht. Jede der potentiell unendlich vielen Perspektiven auf eine Stabplastik schafft ihren eigenen, immer wieder neuen Raum. Das bedeutet: die Linienführungen der Stäbe begrenzen zwar einen konkreten Raum zwischen sich, jedoch nie einen endgültigen. In doppeltem Sinne zeigen die Arbeiten ihrem Publikum also immer einen „Zwischen“-Raum.

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↑ Im Rhombus
↓ Verdreht
Fotos © Astrid Lincke-Zukunft/Dieter Lincke

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Zu dieser produktiven Verwirrung und zur Verunsicherung der Wahrnehmung trägt außerdem ein ausgefeiltes Spiel mit den Parametern vorne und hinten, bzw. nah und fern, leicht und schwer bei: denn auf den ersten Blick erkennt man nicht immer sofort, ob einem beispielsweise ein mehrzackiges Element leicht nach außen entgegenstrebt, oder ob es nicht vielmehr schwer nach innen wegklappt. Zur Unterstützung dieses Effekts setzt Astrid Lincke-Zukunft auch gezielt bestimmte Farbkontraste aus ihrer relativ schmal gehaltenen Palette ein. Dabei macht es sich die Künstlerin zu Nutze, dass manche Farben räumlich nach vorne drängen, also näher am Betrachter liegend erscheinen, andere hingegen zurücktreten und sich visuell nach hinten in den Raum verlagern.

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Ausstellungsansicht, Foto © Sabine Lippert

Die Stabplastiken befinden sich, trotz ihrer statischen Form, in ständiger Bewegung und Verwandlung. Und dann kann, abhängig von den herrschenden Lichtverhältnissen, zur realen Plastik im Raum auch noch eine graphische Schattenzeichnung auf der Wand oder dem Boden hinzukommen und das komplexe räumliche Beziehungsgeflecht noch einmal verdoppeln.

Geradezu verblüffend ist es da, wie einfach die Werkstoffe sind, mit denen die Künstlerin in ihrem Atelier immer wieder neue Varianten dieser großartigen Vexierspiele erzeugt. Einfache, dünne Rundstäbe aus Metall oder Holz, letztere nahezu ausschließlich aus Buche und im Grunde gängige, in jedem Baumarkt vorhandene Massenware. Das und die relative Leichtgewichtigkeit des Materials garantieren der Künstlerin eine maximale Autonomie im Schaffensprozess, die ihr sehr wichtig ist.

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(v.l.) Galeristin Karin Beuslein, Heike Roller, Astrid Lincke-Zukunft am Eröffnungsabend, Foto © Sabine Lippert

Die Stabplastiken sind nicht nur komplexe Kunstwerke und damit in einem ästhetischen Sinne schön. Sie entfalten auch eine durchaus programmatische Strahlkraft: denn diese filigranen, durchsichtigen Kuben sind auch lesbar als visionäre Entwürfe einer vielleicht kommenden, genuin humanen Architektur.

Astrid Lincke-Zukunft „Zwischenräume“: Stabplastiken, Galerie Das Bilderhaus, bis 24. Oktober 2015

 

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