Ein Essay
Von Gunnar Schanno
In einer weiteren Betrachtung zu Kultur und Zivilisation sei gesagt, dass sie keinen Gegensatz zueinander bilden. Beide Begriffe lassen sich wie Aggregatzustände beschreiben. Alles, was Zivilisation ist, kann sich in Kultur wandeln. Die Stoßrichtung geht immer von der Zivilisation aus, weil der Mensch – wie einst der Jäger und Sammler der Urzeit – zunächst das utilitär Lebenserhaltende sicherstellen muss. Als physisch diversifiziertest ausgestatteter Produzent des Zivilsatorischen, der er geworden ist, und in immerzu getriebener Dynamik hat er planerisch erreicht, dass er das aus der Umwelt heraus Produzierte sich für die Gegenwart und in Vorratshaltung für die Zukunft sicherzustellen vermag.
Konkret gewinnt der zivilisatorische Prozess die Dimension des Kulturellen hinzu, sobald das funktional und überlebenssichernd gerichtete Zivilisatorische nicht mehr die Oberhand hat, sobald das eigene Ich und dessen Tun in nachsinnende Sicht gerät, sobald der Wunsch nach individueller Zuordnung auch des Alltäglichen erwacht, sobald das Betrachten, das Reflektieren, das künstlerische, das mythische Bannen in Gestalt und Wort, sobald die Selbsterhöhung in zeremonialen Akten und Ritualen stattfindet. Ausdruck dafür ist, dass der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit immer Zivilisations- und Kulturmensch zugleich ist, produzierend und schöpferisch, nutzend und genießend.
Was einmal Kultur war, kann ernst genommen nicht wieder in den Status des Zivilisatorischen zurückkehren. Kultur ist grundsätzlich das, was bleibt. Es bleibt Kultur, selbst wenn ihre Gegenstände verschwinden, in Kriegen zerstört oder in die Geschichte zurückgesunken sind. Allein die Rückschau, die archäologische Suche nach Spuren erhöht auch vergangenes menschliches Leben zu dem, was uns gesamtmenschliche Gemeinschaft bedeutet und was wir dann mit dem Pathosbegriff Menschheit belegen. Es liegt darin immer auch das Verklärende, so wie in privater Sicht und Rückschau des eigenen Lebens das Familiale, das beruflich gebundene und individuell freie Wirken, das letztlich Menschliche der eigenen Existenz in der Schau der eigenen Vergangenheit als das zu bewahrend Unveränderliche erscheint. Allein dadurch kann es auch in erhöhende, transzendierende, letztlich kulturelle Dimension geraten.
Von der Kultur ist niemand und letztlich nichts ausgeschlossen. Kultur ist ganzheitlich, weil sie die Teile nicht trennt, weil sie nicht Analyse, sondern in all ihren Erscheinungen ihre je eigenen Synthesen bildet. Selbst eine einzelne kulturelle Ausprägung, wie sie etwa ein Gemälde darstellt oder ein tänzerischer Vorgang, ist immer mit dem Ganzheitlichen des Menschen in Beziehung gesetzt. Auch der Dichter wird sein Wort als Ausdruck seiner Ganzheitlichkeit wahrnehmen wollen. Die Kausalitäten, die Ursache-Wirkungs-Mechanismen bleiben im Kontext des Kulturellen unsichtbar. Die physiologischen Gesetze, wenn sie empirisch, experimentell erkundet werden oder pragmatische Anwendung finden, sind Thema des zivilisatorischen Prozesses. Vielleicht unterscheidet dies den Arzt, von dem wir den zivilisatorisch erreichten Standard zur Gesundung erwarten, vom Schamanen, von dem der Gebannte mythische Heilung erhofft. Auch in ihren beiden hauptsächlichsten, für den Menschen ergreifendsten Ausprägungsformen – der Kunst und der Religion – bewegt sich Kultur im Unbeweisbaren, im Subjektiven, im Erlebnishaften, im Meinungs-, Glaubens-, Sehnsuchts- und Hoffnungsvollen, im Übersinnlichen, letztlich im Metaphysischen.
Leonardo da Vinci, technische Modellzeichnungen: Helikopter, Hubkraft eines Flügels; British Museum, London; Bildnachweis: wikimedia commons Weiterlesen