Ein Essay zur Unterscheidung
Von Gunnar Schanno
Kultur ist ein schillerndes Phänomen. Mit dem Begriff Kultur wird bezeichnet, was nicht dem Verbrauch, dem Konsum dient, was sich dem Geschmacklichen, dem Rationalen entzieht, was Zeitlichkeit übersteigt. Kultur wird in die Nähe des Wahren, Schönen und Guten verortet – darin hat sie hoheitlichen Charakter. Der Kultur werden als hauptsächliche, doch unabgegrenzte Ausprägungen die Kunst, das Brauchtum und die Religion zugesprochen. Für alle gilt, dass sie als Phänomene des Kulturellen in welcher Ausprägung auch immer wurzeln in der Tradition und ihren Wert gewinnen im bleibend kreativ Geschaffenen, im gelebten Andenken und in verkündeter Botschaft.
Tradition wird in besonderer Weise reklamiert als Legitimierung des Kulturellen. Tradition innerhalb ihrer Epochen, Stilen oder Formen soll Andenken, Erhalt, Fortführung des kulturell Geschaffenen sein und letztlich auch Schutz bieten vor dem Vergessen, wenn nicht gar dem Vernichten von Kunst, wenn es um ihre materialisierten Einzelartefakte geht. Die Tradition ist also wie ein Verbindungsmodus, der Zusammenhaltskraft, Faser- und Brückengeflecht bildet zwischen den kulturellen Ausprägungen sowohl des bildend Künstlerischen als auch den besagten Kulturausprägungen von Glauben, Sitten und Bräuchen. Über die Tradition erhält Kultur als Pan-Phänomen ihren Status des Erhaltens- und Schützenswerten.
Doch während der materialisierte Kunstgegenstand selbst, ob – beispielsweise – als Gemälde oder Plastik, seine Vollkommenheit in sich selbst trägt – welcher kritischen Wertung auch immer ausgesetzt – , während also der künstlerische Prozess im Gegenständlichen der bildenden Kunst zum Abschluss gekommen ist, so wird Kultur in ihrer in Tradition gelebten Ausprägung als Glauben, Sitten und Bräuche einem fortgesetzten Erkenntnisprozess unterworfen. Deshalb können über Generationen überkommene integritätsverletzende Riten und Bräuche unter menschenrechtlichen Aspekten keinen Anspruch mehr erheben auf Schutz dessen, was als Kulturgut bezeichnet wird – es soll hier nicht weiter Thema sein.
Um dem schillernden Phänomen Kultur etwas mehr Kontur zu geben, sei ihr Gegen- und Komplementärbegriff der Zivilisation zu Hilfe genommen. Zivilisation ist Nichtkultur. Während Kultur im Tiefsten immer unkonkret bleibt, so ist Zivilisation immer konkret und bestimmbar – in Wertung, im besagten Geschmacklichen, in ihrer Zeitverhaftetheit oder Unabgeschlossenheit. Ein Kunstgegenstand, zum Beispiel ein Gemälde, eine Plastik oder ein bauliches Stilcharakteristikum, welcher Qualität auch immer, ist nach Abschluss des künstlerischen Schaffens gänzlich abgeschlossen, in gewisser Weise vollkommen. Selbst ein Torso gilt im kulturellen Kontext nicht als defekt, als bar künstlerischen Wertes, vielmehr wird auch ihm museale Qualität zugesprochen. Ein Kunstwerk kann also nicht ergänzt, aktualisiert werden, es ist wie es ist auf Ewigkeit angelegt – auch wenn es von dinglichem Verfall betroffen ist oder von Menschenhand zerstört wird.
Spruchbanner an der Ruine der Alten Oper Frankfurt: „Rettet das Opernhaus“, ein Spendenaufruf der gleichnamigen Bürgerinitiative, Aufnahme aus den 1950er Jahren; Nachweis: wikimedia commons/Kurt Liese Harald-Reportagen Weiterlesen