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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Forschungen zum Kosmos und im Ich: die Frankfurter Künstlerin Elizabeth Dorazio

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Elizabeth Dorazio in ihrem Atelier, im Hintergrund ihre Arbeit „mundos da vitalidade“, Foto: FF

Ein wenig gewundert haben wir uns schon, als wir Elizabeth Dorazio in ihrem Atelier besuchten: im schicken „WestendCarree“ mit Empfangshalle nebst Pförtnerin, die uns freundlich den Weg wies. Einen Flur ging es entlang, die von ihm abzweigenden Räume sind temporär Künstlern und Schaffenden der „Kreativwirtschaft“ überlassen. Das Entgelt dafür erscheint erstaunlich moderat. Demnächst jedoch wird der Komplex sozusagen „ordentlich“ vermietet, Künstler und Kreative werden also ausziehen müssen.

Das Atelier: weisse Wände, hellgrauer Boden, lichtdurchflutet durch grosszügige Fenster, Klimaanlage, alles sehr gepflegt. Elizabeth Dorazios Arbeitsplatz ist pieksauber, keine Farbtöpfe und Pinsel, kein schweres Gerät, um Hölzern oder Metallen zu Leibe zu rücken, ein Stuhl für Erwachsene, ein Kinderstühlchen, auf das wir uns, weil wir ansonsten um das Leben dieses Möbelchens bangen müssten, lieber nicht setzen, ein kleiner Tisch. Ein grösserer Teil des Bodens unter der Fensterfront ist sauber abgeklebt, darauf lagern verschiedene farbige Folien aus Polypropylen, Polyvinylchlorid (besser als PVC bekannt) und Polymethylmethacrylat, vulgo Acryl- oder Plexiglas.

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topographiae fluentes, Totale und Detail, Fotos: ED

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Ja, Elizabeth Dorazio wird demnächst ausziehen müssen, sich wieder auf Wanderschaft und Suche begeben, Lebensumstände, die ihr nicht unvertraut sind. Die in Araguari im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais geborene Künstlerin hat zwar seit langem ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt in Frankfurt am Main, pendelt aber häufig zwischen Deutschland und Brasilien. Nicht zuletzt ist dies ihren zahlreichen und regelmässigen Ausstellungen geschuldet, vor allem in São Paulo, weiter in Belo Horizonte, Santos, Sorocaba, Campos do Jordão, Rio de Janeiro oder in Brasilia – in der Hauptstadt präsentierte die Kunstgalerie der Banco Central ihre Arbeiten. Das Museu de Arte Contemporânea de Sorocaba MACS – Museum für zeitgenössische Kunst in Sorocaba, einer Grossstadt im Bundesstaat São Paulo, kaufte Werke der Künstlerin für seine Sammlung an.

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aequilibrium cosmicum, Totale und Detail, Fotos: ED

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In Brasilien ist Elizabeth Dorazio, die an der Fundação Escola Guignard in Belo Horizonte Bildende Kunst (mit Auszeichnung), am Istituto per L’Arte ed il Ristauro in Florenz Ältere Techniken der Renaissance sowie an der Städel-Abendschule studierte, wohlbekannt. In Deutschland stellte sie vielfach in Frankfurt am Main, ferner in Stuttgart aus, im Rahmen der Aktion „Montez im Exil“ auch in Berlin, Hamburg, Karlsruhe und Weimar.

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geognosis ontologica, Totale und Detail, Fotos: ED

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Von Forschungen zum Kosmos und im Ich titelten wir. Elizabeth Dorazio ist eine Forscherin, in den Welten des Makro- und des Mikrokosmos. Ihre Themen sind Leben, Organismus, Vergänglichkeit. Sie sucht die Zusammenhänge im Grossen wie im Kleinen, im Universellen wie im eigenen Selbst und Ich.

Dorazio begann ihren künstlerischen Weg, unter dem Einfluss des Studiums der Kunst der Renaissance, mit gegenständlichen Malereien in Acryl und Öl auf Leinwand, vorwiegend Körperstudien. In der Folge zerschnitt sie ihre Ölgemälde und fügte die Teile mit verschiedenen anderen Elementen und weiterer Malerei auf Leinwänden zu Collagen zusammen. In Verbindung mit geognostisch-geologischen Studien gelangte sie, dem schichtweisen Aufbau der Erdkruste aus Sedimenten vergleichbar, in ihrer eigenen Arbeit zu einem System von Schichtungen aus transparenten Materialien, zunächst aus durchscheinenden Papieren und bemaltem Japanpapier. Derzeit befasst sie sich intensiv mit den eingangs genannten Materialien aus Kunststoffen.

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↑↓ scala naturae, Fotos: ED

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organismus polymorphus, Foto: ED

Es entstehen transparente Werke in amorphem Umriss oder auch als Tondi aus mehreren sich überlagernden farbigen Schichten, in die die Künstlerin feine, mit Bleistift ausgeführte Handzeichnungen einfügt, bei letzteren handelt es sich um Strukturen nach Art neuronaler, venöser oder bronchialer Verästelungen. Ähnliche Motive zeichnet Dorazio mit feinen CD-Schreibern unmittelbar auf die Kunststofffolien. Ein weiteres Element in diesen aus mehreren Schichtungen bestehenden Collagen sind zerschnittene Röntgenfilme – Aufnahmen des eigenen Körpers der Künstlerin mit Gewebe- und Knochenstrukturen einschliesslich der Wirbelsäule.

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panta rhei, Totale und Detail, Fotos: ED

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Die einzelnen Folien und Schichtungen sind durch Kunststoffstifte miteinander verknüpft und hängen, abgesehen von den Tondi, zumeist frei beweglich übereinander, so dass der Betrachter durch Berühren der Elemente verschiedenartige Kombinationen und Bildwirkungen erzielen kann.

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scala naturae, Totale und Detail, Fotos: ED

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Kommen wir zu Elizabeth Dorazios monumentalem Werk „mysterium esse revelandum“ (Das Geheimnis ist zu enthüllen). Mancherlei je nach Sinngebung andere Übersetzungen aus dem Lateinischen erscheinen denkbar: Geheimnis, Mysterium, Rätsel; (es) ist, wird, soll zu enthüllen, zu offenbaren, zu zeigen (sein). Die über vier Meter hohe Arbeit ist derzeit (bis zur Finissage am 7. September) im Kunstverein Familie Montez installiert, ein Besuch sollte nicht versäumt werden.

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mysterium esse revelandum, Installationsansichten und Details im Kunstverein Familie Montez, Fotos: FF/ED

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Lassen wir, insbesondere zu dieser Arbeit, eine Vertraute der Künstlerin zu Wort kommen:

Ziel der Installation mit dem Titel „Mysterium esse revelandum“ ist es, den Betrachter näher an diese Komposition in ihrer beeindruckenden Dimension heranzuführen. Indem er das Werk umkreist, den Blick von oben nach unten wandern lässt und die Einzelheiten des Werkes entdeckt, reiht sich der Betrachter in den Fluss der Gedanken zu den unterschiedlichen Fragen, die von der Installation aufgeworfen werden, ein.

Die Installation, die sich aus Überlappungen und Schichten feiner Plastikfolien in den Schattierungen der Wasserfarben zusammensetzt, ist an einer Halterung an der Decke befestigt. Von dort fällt sie geschmeidig in zusammengesetzten Teilen in die Tiefe und verteilt sich auf einer purpurfarbenen, von kleinen Tropfen und ausgeschnittenen Punkten gesprenkelten Plastikunterlage in Form eines Tropfens. Die Zusammensetzung der Farben – die innen liegenden Schichten weisen die dunkleren Wasserfarben auf – und die kettenförmig arrangierten und durch einen Nylonfaden befestigten Schichten können den Eindruck eines Wasserfalls vermitteln.

An der Aussenseite des Werkes hängen Transparente in den unterschiedlichsten Formen von Tropfen und zerfliessenden Spritzern. Dazwischen sind Fragmente von Röntgenaufnahmen, ausgeschnitten als Wassertropfen, angebracht. Auf diese Art gewinnt der Betrachter Einblick in das Innere eines biologischen Organismus und entdeckt eine verborgene und unzugängliche Welt.

In den verschiedenen Teilen der Komposition herabhängende durchsichtige Ausschnitte erinnern aufgrund ihrer Struktur an eine DNA-Kette. Auf den Transparenten lassen sich gelegentlich feine, in Rot gezeichnete Linien erkennen, die organischen Strukturen und winzig kleinen Wasserelementen entsprechen.

Der aktive Blick, den die Komposition fördert und erheischt, beziehungsweise die aktive Einbindung des Betrachters, der im Sinne Adornos zu dem Kunstwerk eine Beziehung eingeht, verwandelt die Reflexion in eine dynamische Handlung und verleiht dem Namen der Installation Visibilität. Der Titel „Mysterium esse revelandum“ bezieht sich auf den lateinischen Ausdruck für eine zu erfüllende Aufgabe, was im Portugiesischen in etwa dem Verb „dever“ (sollen) oder der Redewendung „é para ser“ (es soll sein) entspricht. Die Installation mit den ihr zu Grunde liegenden Motiven möchte zur Konfrontation eines jeden mit den grundlegenden Vorstellungen über die Mysterien der eigenen Existenz führen, die, wie es der Titel suggeriert, von jedem von uns, das heisst von jedem einzelnen Menschen enthüllt werden sollten.

Wenn man davon ausgeht, dass ein jedes Individuum als Subjekt der eigenen Geschichte sich auf dem Weg zur Enthüllung der existenziellen Fragen des Lebens befindet, dann wird aus der künstlerischen Installation eine Aufforderung an das Publikum, den Blick nach innen zu richten, und sie gewährleistet somit einen Moment der Kontemplation und aktiven Reflexion.

Marie Christiane Seiferth

Abgebildete Werke © Elizabeth Dorazio
Fotos © (ED) Elizabeth Dorazio, (FF) FeuilletonFrankfurt

→ Elizabeth Dorazio und Max Weinberg im Kunstverein Familie Montez

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