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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„ESPRIT MONTMARTRE“ in der SCHIRN Kunsthalle Frankfurt

DIE BOHÈME IN PARIS UM 1900

Was haben Frankfurts Opern-Intendant Bernd Loebe und Triple-Museumsdirektor Max Hollein gemeinsam? Alles, was sie anpacken, gerät ihnen zu Gold!

Bereits vor Ostern konnte die Kunsthalle für die Ausstellung „Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“ den 100.000-sten Besucher vermelden. „Dass die Ausstellung der Schirn in nur wenigen Wochen einen solchen Besucherzuspruch erhalten hat, erfüllt uns mit grosser Freude und zeigt die hohe Anziehungskraft hochkarätiger und aussergewöhnlicher Kunstwerke der Pariser Moderne um 1900. Es ist aber auch ein vehementes Zeichen dafür, dass das Interesse an grossen Themenausstellungen, die dem Besucher einen neuen, noch unbekannten Blick eröffnen und wie sie die Schirn immer wieder präsentiert, ungebrochen ist“ freute sich denn auch SCHIRN-Direktor Max Hollein. Am 1. Juni 2014 nun geht die Schau zu Ende. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch nicht dabei gewesen sein sollten, wird es hohe Zeit – denn diese Ausstellung zu versäumen wäre ein nahezu unverzeihlicher Fehler!

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Louis Anquetin, Femme à la voilette, 1891, Öl auf Leinwand, 81 x 55 cm. © Privatsammlung, courtesy of D. Nisinson

Sie zählt derzeit wohl zu den bekanntesten Damen in Frankfurt, schaut sie doch seit vielen Wochen die Bürgerinnen und Bürger der Stadt von Plakatwänden und Litfaßsäulen an: Louis Anquetins „Femme à la voilette“. Ihr Gesichtsschleier weist sie als Dame der seinerzeitigen „Halbwelt“ aus. Wir zitieren aus einem SCHIRN-Wandtext:

Jeden Montag fand an der Place Pigalle am Montmartre ein Markt für Malermodelle statt, bei dem um 1890 über 600 junge Mädchen, zumeist zwischen 16 und 21 Jahren, ihre Dienste anboten. Viele Frauen aus den unteren Gesellschaftsschichten waren gezwungen, zu arbeiten.
Da ihr Verdienst in der Gastronomie, in der Modeindustrie, in Dienstleistungsberufen, oder Fabriken oft weniger als die Hälfte der Verdienste der Männer ausmachte, arbeiteten viele von ihnen zusätzlich als Prostituierte. Auch aus diesem Grund stieg der Anteil an illegaler Prostitution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich drastisch an. Der Schriftsteller Émile Zola beschrieb die Zustände in aller Direktheit: „Alle Welt sieht, dass der Verdienst der Frauen in Paris nicht zum Leben reicht. Die Arbeiterin kann zwischen zwei Möglichkeiten wählen: entweder Prostitution oder Hunger und langsamer Tod.“
Die Darstellungen der Künstler lassen zumeist offen, ob es sich um ihre Lebensgefährtin, ein bezahltes Modell, eine Tänzerin oder um eine Prostituierte handelt. Toulouse-Lautrec wohnte sogar für längere Zeit in Bordellen und schilderte die Frauen nicht als Objekte der Begierde, sondern als Freundinnen, die, wie er selbst, Aussenseiter der Gesellschaft waren. Auch andere Künstler wie van Gogh, Forain und Picasso solidarisierten sich mit den sogenannten „filles“.

Der Montmartre-Hügel mit seinen ärmlichen Bauten und Elensquartieren, Steinbrüchen, Brachen, alten Gärten und den berühmten Windmühlen bildete um die Jahrhundertwende den künstlerischen Nährboden für Maler, Dichter, Literaten und Komponisten. Dort fanden sie – jenseits des mondän umgestalteten Zentrums von Paris mit seinen breiten Boulevards und grossen Avenuen – billigen Wohnraum. Die in den Bildern nicht nur zur Schau gestellte Armut war gleichsam Teil einer bohemehaften Selbststilisierung, die mit dem Bedürfnis nach individueller und künstlerischer Freiheit einherging.

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Minuten vor der Pressekonferenz beraten sich Schirn-Direktor Max Hollein und Kuratorin Ingrid Pfeiffer …
… das Medieninteresse ist riesengross

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Max Hollein: „Mit ‚Esprit Montmartre‘ eröffnet sich den Besuchern ein beeindruckendes Panorama der lebendigen und wirkungsreichen Kunstszene in Paris um 1900. Montmartre war ein Ort, an dem mit höchster künstlerischer Kreativität ein bewegendes Abbild der Gesellschaft skizziert wurde – ein Ort, der namhafte, aber auch fast vergessene Künstlerpersönlichkeiten hervorbrachte. Ihnen allen ist gemein, dass sie mit ihren Kunstwerken die europäische wie internationale Kulturgeschichte massgeblich prägten. Ihre Werke nun in dieser Dichte in Frankfurt sehen zu können, ist eine Seltenheit und ein besonderes Geschenk für die Besucher.

Kuratorin Ingrid Pfeiffer: „Indem sich die Ausstellung aus kunstsoziologischer Perspektive der Bohème am Montmartre nähert und den gesellschaftlichen und historischen Kontext mit berücksichtigt, wird deutlich, wie stark sich Mythos und Legende des Ortes von der eigentlichen Realität unterschieden. ‚Esprit Montmartre‘ zeigt das wahre Leben der Menschen abseits der bekannten Klischees. Berührend, sinnlich und aufrüttelnd sind die Werke der Künstler, die mit ihren Sujets und Bildideen, Materialien und Stilen die künstlerischen Entwicklungen der Moderne wesentlich vorauszeichneten.“

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  Vincent van Gogh, La Colline de Montmartre avec une carrière de pierres, 1886, Öl auf Leinwand, 56,5 x 62,6 cm; Van Gogh Museum, Amsterdan, Vincent van Gogh Foundation

↓  Vincent van Gogh, The Blute-fin Mill, 1886, Öl auf Leinwand, 55,2 x 38 cm. Museum de Fundatie, Zwolle and Heino/Wijhe, the Netherlands

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Ramon Casas, Le Bohème, poète de Montmartre (Portrait d’Erik Satie), 1891, Oil on canvas, 198.8 x 99.7 cm. Courtesy Northwestern University Library

Kaum eine Epoche der neueren Kunstgeschichte ist so geprägt von Klischees und so häufig abgebildet wie das Paris der Jahrhundertwende am Montmartre: das Moulin Rouge als Inbegriff für Dekadenz und Genuss, Bilder von Tänzerinnen beim Cancan oder die üppigen Kaffeehausszenen im Paris der Belle Époque. Ein weiteres Klischee ist der Künstler als Bohemien, arm, aber kreativ, dem Alkohol frönend, bis mittags schlafend und abends mit Freunden und Gleichgesinnten die Nacht zum Tage machend.
Mit über 200 Werken von 26 Künstlern soll in dieser Ausstellung gezeigt werden, dass die Realität des Montmartre um 1900 in vielfacher Hinsicht das Gegenteil der schillernden Welt der Belle Époque war. Das besondere topografische, soziale und historische Umfeld dieser damals verrufenen Gegend trug wesentlich dazu bei, dass sich einige der bedeutendsten Künstler der Moderne auf dem Montmartre angesiedelt haben. Statt der Darstellung grosser Boulevards und glänzender Opern suchten die Künstler dort erstmals in grossem Umfang neue Themen und Motive: Sie hielten in bislang ungekanntem Realismus die Welt der Aussenseiter, der Diebe, Bettler, Gaukler, Prostituierten und Trinker, aber auch der Arbeiter und Demonstranten fest. Zu dieser neuen Themenwelt bei van Gogh, Toulouse-Lautrec, Picasso und vielen anderen trat auch eine neue Form künstlerischer Selbstdarstellung und damit eine veränderte Definition der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. (SCHIRN-Wandtext)

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Historische Aufnahme Montmartre, Eingang des Moulin de la Galette, 1900, Collection Société d’Histoire Le Vieux Montmartre

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Plakat von Jules Chéret („Vater der Plakatkunst“), Bal au Moulin Rouge, 1889

„Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“, SCHIRN Kunsthalle Frankfurt, nur noch bis 1. Juni 2014

Fotos: FeuilletonFrankfurt

 

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