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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Landschaft im Dekolleté – Fenster als Element und Metapher“ in den Opelvillen

Facettenreiche Hommage für das Fenster

Von Hans-Bernd Heier

Was hat es mit dem Titel auf sich? „Landschaft im Dekolleté“ klingt widersprüchlich, geradezu surreal und lässt an René Magrittes Werke denken. Ist es nicht ein Widerspruch in sich, eine Landschaft im Ausschnitt zu vermuten? Denn der Ausschnitt steht für Begrenzung und Grenzen, während Landschaft für Weite steht. Dennoch hat Beate Kemfert, Kuratorin und Vorstand der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, diesen geheimnisvollen, ja fast kryptischen Titel gewählt, dessen zweiter Teil „Fenster als Element und Metapher“ verdeutlicht, um was es in dieser Schau geht.

Fenster sind ein faszinierendes Thema, das Künstlerinnen und Künstler seit der Renaissance immer wieder dargestellt haben. Das Sujet diente ihnen als Inspirationsquelle. Auch heute setzen sich viele Kunstschaffende mit den Widersprüchen und Gegensätzen thematisch auseinander. Sie reizt es, mit dem Motiv des Fensters „eben jene Schwelle zwischen Innen und Außen, Heim und Natur, Geborgenheit und Entgrenzung, Bekanntem und Unbekanntem, Fassbarem und Geheimnisvollem wieder neu auszuloten“, so Beate Kemfert.

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Die Kuratorin Beate Kemfert vor verschlossenem Fenster in den Opelvillen; Foto: Hans-Bernd Heier

Mit über 120 Fotografien und Objekten von fünfzehn Künstlerinnen und Künstlern aus acht Ländern präsentieren die Opelvillen bis zum 20. Juli 2014 in der sehenswerten Schau Schlüsselwerke aus den Jahren von 1984 bis 2013. Die kontrastreiche Welt der Fenster beleuchten Jessica Backhaus, Lucinda Devlin, Lara Faroqhi, Simone Fischer, Thomas Florschütz, Andreas Gefeller, Sibylle Hoessler, Clay Ketter, Andrej Krementschouk, Beatrice Minda, Loredana Nemes, Marja Pirilä, Inta Ruka, Ulrich Schwarz (Video) und Shizuka Yokomizo in ihren Arbeiten.

Dem Fenster kam in der Fotografie von Anbeginn an eine essentielle Rolle zu. Allein aus praktischen Gründen war der Blick aus dem Innenraum heraus eines der ersten fotografischen Sujets – ohne die lang anhaltende Lichtquelle eines Fensters wäre keine ausreichende Belichtung möglich gewesen. Dies ist jetzt zwar technisch nicht mehr erforderlich, dennoch hat das Thema Fenster auch für die heutigen Fotokünstler nichts an Reiz eingebüßt.

Simone Fischer, M27_scratch 01, 2009-10 © Simone Fischer-430

Simone Fischer, scratch 01 aus der Serie: M27, 2009-2010, 36 Prints auf Alu-Dibond, 18 x 13,5 cm; © Simone Fischer

Simone Fischer fuhr ein Jahr lang für ihre konzeptionell angelegte Fotoserie mit einem Bus immer dieselbe Strecke. Ziel der 1961 in Schondorf geborenen Künstlerin war dabei, jeweils ein Foto durch eine verkratzte Busscheibe aufzunehmen. Obwohl Fischer immer dieselbe Linie und dieselbe Uhrzeit wählte, traten durch die wechselnden Busse veränderte Kratzspuren auf. Die Membran zur Außenwelt ist in ihrer 36-teiligen Fotoserie stets gestört. Eine Auswahl ihrer durch Kratzspuren getrübten kleinformatigen Schnappschüsse empfängt die Besucher zu Beginn der Präsentation.

Ans Fenster zu treten und nach draußen zu schauen, ist ein natürlicher Vorgang. Unser Blick ist jedoch ein anderer, wenn wir uns an einem fremden Ort befinden. Die viel gereiste Jessica Backhaus tritt in verschiedenen Ländern ans Fenster. Vierzehn Jahre lang war für die 1970 in Cuxhaven geborene Künstlerin New York Wahlheimat, bevor sie 1992 nach Berlin ging. In ihren Fenster-Bildern spiegelt sich ihre Suche nach Zeit und Bedeutung im wahrsten Sinne des Wortes. Den vergänglichen Augenblick festzuhalten fasziniert Backhaus ebenso wie die Erfahrung des Verschwindens und Entgleitens.

Die Kluft zwischen Fotograf und Abgebildeten, also zwischen „ich“ und „du“, hält Shizuka Yokomizo am radikalsten fest. In der konzeptionellen Serie „Stranger“ blieb sie für die Porträtierten anonym, auch wenn Yokomizo die Zusammenarbeit mit ihnen suchte. Die 1966 in Tokio geborene Japanerin schickte Briefe an die Bewohner zufällig ausgewählter Wohnungen in London, Tokio, Stockholm, Berlin oder Paris und bot ihnen darin eine bestimmte Zeit an, in der sie vor ihr Fenster treten konnten, damit Yokomizo diese von der Straße aus in einer alltäglichen Situation fotografieren konnte. In jedem Foto hielt die Künstlerin die Kommunikation zwischen zwei Menschen fest, die ihre Distanz als Fremde auch nach dem Fotoshooting nicht aufgaben. Auch nachher begegneten sie sich nicht persönlich und hatten keinerlei direkten Kontakt. Mit diesen Arbeiten verzeichnete Yokomizo großen Erfolg; die Arbeiten waren im Jahre 2010 im Tate Modern in London und 2013 auch im J. Paul Getty Museum in Los Angeles zu sehen.

Shizuka Yokomizo, Stranger No

Shizuka Yokomizo, Stranger No.10, 1999, C-Print, 108 x 127 cm; © Shizuka Yokomizo

Einen völlig anderen Ansatz für Ihre Arbeiten wählte Loredana Nemes. Sie fotografierte Männerwelten in türkischen, orientalischen und arabischen Männercafés in Berlin. Die 1972 in Rumänien geborene Künstlerin, die jetzt in Berlin lebt und arbeitet, bat die Besucher der Cafés, sich für ein Foto hinter die Scheibe zu stellen, da ihr als Frau der Zutritt verwehrt blieb. Das Fensterglas wird so zu einer Außenmembran, die die Innenwelt nur schemenhaft andeutet und die Trennung zwischen den Welten visualisiert. Das Ergebnis dieses fotografischen Dialogs sind verfremdete Porträts von Aziz, Beker und Ünal. Nur schemenhaft sind die Männergesichter hinter milchigen Fensterscheiben und Gardinenmustern zu erkennen: Ihre Konturen sind verschwommen, die Gesichtszüge nur vage zu sehen.

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Loredana Nemes, Ünal (1) aus der Serie: beyond, 2008-2010, Neukölln, 2009, Silbergelatine auf Barytpapier, 100 x 88 cm; © Loredana Nemes; Courtesy Galerie Anita Beckers, Frankfurt

Unmöglich wird der Blick ins Freie, wenn sich das Fenster über Kopfhöhe befindet, wie Lucinda Devlin zeigt. Die 1947 in Michigan geborene Amerikanerin erkundet Todeszellen, in die der zum Tode Verurteilte gebracht wird, sobald das Hinrichtungsdatum feststeht. Hier beginnt die „Totenwache“ des Häftlings, der in den letzten 24 Stunden seines Lebens rund um die Uhr beobachtet wird, um sicherzustellen, dass er keinen Selbstmord verübt. Das kleine Fenster der Todeszelle des Gefängnisses von Huntsville in Texas biete keine Sicht mehr auf die Außenwelt.

Lucinda Devlin, Final Holding Cell, Texas State Prison, 1992 © Lucinda Devlin, DZ BANK Kunstsammlung, Frankfurt-500

Lucinda Devlin, Final Holding Cell, Texas State Prison, 1992, Chromgenic Color Print, 74 x 74 cm; © Lucinda Devlin; DZ Bank Kunstsammlung Frankfurt

Das Thema Zeit, das ein Fenster durch wechselnde Helligkeiten hervorrufen kann, setzt Ulrich Schwarz filmisch um. Die Fassade einer Sporthalle aus den 1980-er Jahren in einer italienischen Kleinstadt nutzt er als Gerüst farblicher Veränderungen. Der Künstler, 1963 in Wuppertal geboren, spürte in der Nähe von Rom in Paliano einen seit Jahren unbenutzten Gebäudekomplex auf, bei dem sich zwischen Hauptfassade und Sporthalle eine Rampen- und Treppenanlage befindet. Mit abnehmendem Licht werden die Fenstersprossen unscharf und das filmische Bild in dem 30-minütigen Video ähnelt zunehmend einer Zeichnung.

In Clay Ketters großformatigen Fenstermotiven erhalten die Rahmen besondere Bedeutung, was erst bei genauem Hinsehen offenbar wird. Ketter ist der einzige in Rüsselsheim gezeigte Fotokünstler, der digital arbeitet. In Neapel im Museum Madre Veduta machte er zunächst Aufnahmen von offenen Fenstern und dann von gegenüberliegenden Wandoberflächen und Architekturstrukturen. In dem ersten Negativ hielt er den Fensterrahmen mit normalem Objektiv fest. Für die zweite Aufnahme des Ausblicks verwendete er ein Weitwinkelobjektiv. Das Fotomaterial setzte der 1961 in Brunswick, USA, geborene Künstler anschließend zusammen, ohne den Ausblick zu manipulieren. Seine Bildcollage verlagerte Ketter in die Fensterscheiben.

Ulrich Schwarz, FAST FORWARD, Videostill (01002000) © Ulrich Schwarz-650

Ulrich Schwarz, Fast Forward, 2012, Videostill; © Ulrich Schwarz

Der Gedanke, die Außenwelt mit dem Innenraum zu vereinen, führte Marja Pirilä zurück zur Camera obscura. Die 1957 geborene Finnin porträtiert zunächst Menschen in deren Privaträumen, doch wandelt sie diese zuvor mit Hilfe von schwarzer Plastikfolie und konvexen Linsen zur dunklen Kammer der Camera obscura um. Auf die Wände wird dadurch die Szenerie, die sich außerhalb des abgedunkelten Fensters darbietet, projiziert, und zwar auf dem Kopf stehend. Die Überlagerung der Außenwelt und der Personen in ihrem Raum vereint Pirilä schließlich in einer Aufnahme. Die Landschaften erscheinen nun wie Gedanken, Träume und Ängste, die die Bewohner in ihren privaten Wohnräumen durchdringen.

Die Möglichkeiten fotografischer Mittel lotet auch der 1957 in Zwickau geborene Thomas Florschuetz aus, allerdings nicht digital, sondern im Nebeneinander verschiedener Fotografien. Nach innen geöffnete, doppelflügelige Fenster gliedern den Bildraum in eine gitterartige Struktur, die Durchblicke und Spiegelungen hinter- und übereinander staffelt. Manche Scheiben zeigen eine Spiegelung des Außenraumes und lassen gleichzeitig den Innenraum durchblicken.

Das Fenster wurde auch bei Lara Faroqhi zu einem wichtigen Element in ihren Arbeiten. Das zeigen nicht nur die Bodenreliefs, sondern auch die „Glasbögen“. Diese fragile Installation der 1968 in Berlin geborenen Künstlerin mutet orientalisch an und nimmt Bezug auf Fensterformen einer Moschee im spanischen Cordoba, die auf die Zeit der islamischen Expansion im 8. Jahrhundert zurückgeht. Faroqhi übersetzt die gefundene Form zu einem transparenten Fenstergebilde aus vielen Einzelteilen und schafft einen Raum aus Bögen.

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Die Kuratorin, eingerahmt von Lara Faroqhis „Glasbögen“ aus dem Jahr 2000; gebranntes Glas, Kupfer, Messing, 226 x 93 x 150 cm, Foto: Hans-Bernd Heier

Auch die hier nicht besprochenen Werke von Andreas Gefeller, Sibylle Hoessler, Andrej Krementschouk, Beatrice Minda und Inta Ruka laden zum genauen Hinsehen und Entdecken von alten Techniken und neuen Sichtweisen ein.

Ein umfangreiches Begleitprogramm ergänzt die Ausstellung. Wegen der überaus großen Resonanz bieten die Opelvillen auch dieses Mal wieder Kunstführungen für Menschen mit Demenz an. Es ist hessenweit das erste Museumsprojekt, das die Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim seit November 2013 als ein erweitertes museumspädagogisches Programm für Menschen mit Demenz anbietet. Erstmals wurde dieses spezielle Vermittlungsprogramm im Rahmen der Ausstellung „Wandteppiche von Noa Eshkol“ praktiziert.

In der sogenannten „Schleuse“ im ersten Stock ist zeitgleich die Mitmach-Ausstellung „Lieblingsfenster“ zu sehen. In Anlehnung an das Thema der Hauptausstellung sind Besucher eingeladen, Fotos ihrer „Lieblingsfenster“ mitzubringen und diese in der Schleuse zu präsentieren. Jeder, der Lust hat mitzumachen, kann sein persönliches „Lieblingsfenster“-Bild einfach an die Wände heften.

„Landschaft im Dekolleté – Fenster als Element und Metapher“, Opelvillen Rüsselsheim, bis 20. Juli 2014

Bildnachweis (soweit nicht anders bezeichnet): Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim

 

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