home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Preisverleihung des Verbands der deutschen Filmkritik 2013 und der deutsche Berlinale-Beitrag „Jack“

Hessischer Rundfunk mehrfach nominiert

Von Renate Feyerbacher

Seit mehr als 50 Jahren wird der Preis der deutschen Filmkritik ausschliesslich von Filmkritikern verliehen. In zwölf Kategorien wurde er unlängst vergeben an Produktionen, die im Kalenderjahr 2013 in den Kinos liefen.

Am 10. Februar 2014 war es wieder so weit: Der Verband der Deutschen Filmkritik (VDFK) vergab während der diesjährigen Berlinale seine Preise für das vergangene Jahr. Den einzigartigen Film- und Bühnenschauspieler sowie Regisseur Burkhart Klaußner hatten die Veranstalter als Moderator gewonnen.

430-023

Burkhart Klaußner; Foto: Renate Feyerbacher

Zur Erinnerung: Für seine Rolle als Pastor in Michael Hanekes mehrfach ausgezeichnetem Film „Das weisse Band“ erhielt Klaußner den Deutschen Filmpreis als Bester Hauptdarsteller.

Als Moderator sorgte er am 10. Februar für einen lockeren, zwanglosen Abend.

Warum schreibe ich erst jetzt über die Preisverleihung? Weil ich erst jetzt im Frankfurter Naxos Kino, das sich dem Dokumentarfilm widmet, „Master oft the Universe“ von Marc Bauder gesehen habe, der in Berlin an jenem 10. Februar den Preis der Deutschen Filmkritik erhielt.

Mehrfach waren Koproduktionen des Hessischen Rundfunks und der Hessischen Filmförderung (HFF) nominiert.

In der Kategorie Bester Dokumentarfilm waren es: „Master of the Universe“ für Regie und auch für Musik (Bernhard Fleischmann) und für Kameraführung (Börres Weiffenbach), „Vergiss mein nicht“ von David Sieveking sowie „Drachenmädchen“ von Inigo Westmeier. Alle drei Filme hätten den Preis verdient.

Drachenmädchen“ wurde im Herbst 2013 beim Hessischen Film-und Kinopreis ausgezeichnet. In ihm werden Schülerinnen und Schüler einer Kung Fu-Schule in Zentralasien beobachtet. Der Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“ – Untertitel: „Wie meine Mutter ihr Gedächtnis verlor und meine Eltern die Liebe neu entdeckten“ war im Jahr zuvor beim Hessischen Film- und Kinopreis ausgezeichnet worden. Der Dokumentarfilmer Sieveking, der im hessischen Friedberg geboren wurde und in Bad Homburg aufwuchs, begleitet mit der Kamera sehr einfühlsam, wie die Demenz langsam von seiner Mutter Gretel Besitz ergreift. Ein sehr persönlicher Film, der alle Familienmitglieder einbezieht und Familiengeschichte erzählt. Die Dokumentation wurde auch beim 65. Filmfestival in Locarno im August 2012 mit dem Hauptpreis bedacht. Ein Film, der zeigt, wie menschenwürdig demenzkranke Personen begleitet werden können und sollten. Für Familien ist es eine schwierige, aber auch beglückende Aufgabe. Ich erinnere mich an den Besuch bei einem Ehepaar, die ich für eine Sendung gewinnen konnte. Die Frau hatte Alzheimer, der Mann Arthrose. Er erzählte, dass er sie überall mit hinnehme – auch zum Kartenspiel. Sie kniee sich dafür nieder und binde ihm die Schuhe zu, da er sich nicht mehr bücken könne. Am Ende des Gesprächs sagte sie: „Ich liebe den E. so von Herzen“. Für mich ein wunderschöner Moment. Solche Momente gibt es in dem Film „Vergiss mein nicht“ an vielen Stellen.

600-026

„Master of the Universe“, Preisverleihung; Foto: Renate Feyerbacher

Der Dokumentarfilm „The Master of the Universe“, der auf dem Festival in Locarno bereits prämiert wurde, führt uns in die knallharte Finanzwelt. Reinhard Voss war ein hochrangiger Investmentbanker in Deutschland. Er ist aus der Branche ausgestiegen – von sich aus, viele Jahre vor dem Rentenalter.

Bevor er sich für den Film zur Verfügung stellte, liess er sich juristisch beraten. Lange hat Regisseur Marc Bauder, der früher Wirtschaftswissenschaften studierte hatte, nach einem Gesprächspartner gesucht. Kollegen von Voss sprachen zwar mit ihm, wollten aber nicht vor die Kamera treten, Banken lehnten ab: „Ein Wort charakterisiert unsere Dreharbeiten in der Finanzbranche: ANGST. Diese Branche hat Angst, sich aus der Deckung heraus zu bewegen. Jeder Schritt könnte von der Außenwelt falsch interpretiert werden, und bevor man das riskiert, sagt man lieber gar nichts.“

In dieser 88 Minuten dauernden Dokumentation packt Rainer Voss aus. Nur er redet. Langweile kommt jedoch nicht auf. Nicht einmal wird mitgeteilt, wo er arbeitete. Das Internet enthüllt es: bei der Deutschen Bank. Er war ein Top-Mann. In einem Spiegel-Beitrag von Autor Beat Balzli vom 22. April 2002 mit dem Titel „Schulden für jedermann“ wird bemängelt, dass die Totalverluste in Bankenkreisen gern klein geredet würden, und er zitiert Rainer Voss: „So bedauernswert Negativbeispiele wie Swissair und Enron für die betroffene Anlegerschaft sind, muss man sie doch ins Verhältnis setzen“. Der Kollege kommentiert: „Allein am Euro-Markt stünden über 4000 Unternehmensanleihen in einem Gesamtvolumen von über einer Billion Euro aus“.

Master_of_the_Universe

Szene aus „Master of the Universe“; Bildnachweis: © HR / bauderfilm

Der ehemalige Banker erzählt vom harten Aufstieg. Ständige Verfügbarkeit wird verlangt. „Tut mir leid, Du hast heute Geburtstag und wolltest mit Deiner Frau essen gehen“, hört er. Nachts schlafen im Bankenturm. Bedingungslose Loyalität. Nur so ist Karriere möglich. Auf ein Privatleben muss praktisch verzichtet werden. Politische Meinung darf nicht geäussert werden. Die Bezahlung ist dafür vorzüglich.

Voss erzählt erstaunlich locker von all den Abgründen, den Skrupellosigkeiten und quasi-religiösen Gesetzmäßigkeiten. Fazitfrage: Hat sich seit der globalen Finanzkrise etwas geändert? Voss sieht es nicht. Ein enthüllender Einblick und beunruhigender Ausblick.

Vor zwanzig Jahren war die Haltedauer einer Aktie im Durchschnitt vier Jahre und heute sind wir bei 22 Sekunden. Der Sinn einer Unternehmensbeteiligung für 22 Sekunden. Also das kann mir keiner erklären“, so Rainer Voss. Die Gier beherrscht alle. Der Moloch Finanzwelt wird entmystifiziert. Er droht alle zu verschlingen. Lösungen werden nicht gesehen.

Mit schönem, nächtlichem Schwenk beginnt der Film. Später wird es nüchterner: ein verlassenes Bankgebäude in der Mainzer Landstrasse ist der Drehort. Voss‘ Blick beziehungsweise die Kamera schwenkt immer wieder über die Bankentürme. Besonders eindrucksvoll sind die Bilder bei Schneesturm: makaber, weil sie das Gefühl der finanziellen Eiseskälte vermitteln. Der grosse runde Konferenztisch, ein Meisterwerk des Tischlerhandwerks, mit einigen verlassenen Chefsesseln, kehrt immer wieder wie die abgewickelten Räume. Trostlos passend zum Gesagten.

Im Urteil der Jury heisst es: „Mit den ebenso instruktiven wie beklemmenden Offenbarungen seines Insider-Protagonisten ist der Regisseur indes nicht auf die Erzeugung wohlfeiler Empörung aus, stattdessen arrangiert er sie mittels Bild, Ton und Schnitt, kühl entmystifizierend, auch gegen den zwar verständlichen, aber wenig zielführenden Wunsch nach einfachen Lösungen bei komplexen Problemstellungen.“

Die Redaktion teilten sich Esther Schapira vom Hessischen Rundfunk und Gudrun Hanke-El Ghomri vom Südwestrundfunk.

600-029

„Die andere Heimat“, Preisverleihung; Foto: Renate Feyerbacher

Der Spielfilm „Die andere Heimat“ von Edgar Reitz holte für sich in Berlin zwei Preise: einmal als Bester Film, und Gernot Roll zusätzlich für die Beste Kamera.

Fast vier Stunden dauert der Streifen, dessen Drehbuch Reitz zusammen mit Gert Heidenreich schrieb. Es ist die Fortsetzung seiner dreiteiligen Familiengeschichte „Heimat“, aus den Jahren 1984 bis 2004, die vom Leben im Hunsrück, speziell vom Dorf Schabbach erzählt. Vom Weg in den Faschismus, von der Nazizeit, vom Wiederaufbau in der Nachkriegszeit und vom Wirtschaftswunder und seinen Folgen.

Die andere Heimat“ aus dem Jahr 2013 begibt sich ins 19. Jahrhundert, in die Jahre 1840 bis 1844. Es ist die Zeit der Hungersnöte, der hohen Kindersterblichkeit, der Unterdrückung und der Willkür. Hundertausende verlassen Deutschland nach Südamerika. Auch Jacob Simon träumt davon. Die Geschichte der Familie Simon im fiktiven Hunsrück-Dorf Schabbach ist nicht nur ein Film über den Hunsrück, sondern auch über die Auswanderungswelle der damaligen Zeit.

430-022

Edgar Reitz am 10. Februar 2014 in Berlin; Foto: Renate Feyerbacher

Die andere Heimat“, die ihre Welturaufführung bei den Filmfestspielen in Venedig hatte und begeistert aufgenommen wurde, hat mittlerweile mehrere Auszeichnungen erhalten. Der 81-jährige Autor und Regisseur Edgar Reitz wird allüberall gefeiert.

Gewinner in Berlin in der Kategorie Spielfilmdebüt war der Beitrag „Tore tanzt“ von Katrin Gebbe. Eine heisse Diskussion löste er bei den Filmfestspielen in Cannes aus, zu denen er eingeladen war. Die junge Hamburger Regisseurin hat sich mit dem Thema moderne Sklaverei und Sadismus befasst und eine wahre Geschichte zum Vorbild genommen. Der Jugendliche Tore, der sich Gott verschrieben hat, ist hilfsbereit, gerät in die Fänge einer Familie, die ihn – bis auf die Tochter – ausnutzt, quält, versklavt.

Der Schauspieler Sascha Alexander Gersak spielt den Vater. Nominiert war er als Bester Darsteller Spielfilm für „Tore tanzt“ und für „5 Jahre Leben“ von Regisseur Stefan Schaller. Er dokumentiert die Geschichte von Murat Kurnaz, der unschuldig im Gefangenenlager Guantanamo sass, weil er als islamistischer Terrorist verdächtigt wurde. Sascha Alexander Gersak wurde zum Besten Darsteller gekürt. Dieser Film ist auch eine Koproduktion des Hessischen Rundfunks.

Auch an dem Film „Houston“ von Bastian Günther mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle ist der Hessische Rundfunk beteiligt. Ein Trinkerleben wird geschildert – ein Headhunter, der mit Tricks arbeitet, weil er durchs Trinken immer weiter abstürzt. „Houston“ war für die Kategorie Spielfilm und für die Kategorie Schnitt nominiert. Anne Fabiani wurde der Preis für Schnitt zugesprochen.

430-006

Antonia Lingemann am 10. Februar 2014 in Berlin; Foto: Renate Feyerbacher

Was für eine Überraschung: Die noch nicht 18-jährige Antonia Lingemann, Schülerin des Kölner Apostelgymnasiums, erhielt für den Film „Bastard“ in der Kategorie Darstellerin Spielfilm den begehrten Preis. Barbara Sukowa in „Hanna Arendt“, Antonia Bill in „Die andere Heimat“, Steffi Kühnert in „Die Frau, die sich traut“, Lina Wendel in „Silvi“ waren ihre Konkurrentinnen.

Schon vor acht Jahren begann Antonia Lingemann im Schultheater mitzumachen. „Bastard“ ist ihr zweiter Spielfilm. Filmspezialist und Chefredakteur Thomas Ays, der Martina Gedek in „Bastard“ ausserordentlich findet und die schauspielerische Leistung der andern würdigt, schrieb: „Das Erstaunliche an diesem Drama sind aber die Kids. Antonia Lingemann … zeigt, wie die deutsche Jungschauspielergeneration aussieht. Unglaublich, wie erschreckend authentisch diese junge Mimin agiert.“

Rainer Gansera von der Süddeutschen Zeitung, der auch Kritik an dem Film übt, schreibt: „Für sie (Mathilda) hat er eine brilliante junge Darstellerin entdeckt, Antonia Lingemann, die der schwierigen Balance von Unschuld und Durchtriebenheit mühelos gewachsen ist. Mathilda, 13, haust mit ihrer alkoholsüchtigen, alleinerziehenden Mutter in einer Absteige des sozialen Wohnungsbaus. Wenn sie auf dem Rummelplatz steht, mit Lippen so knallrot wie der glasierte Apfel, an dem sie knabbert, erstrahlt sie in ihrem doppeldeutigen Glanz: einerseits zart-verletzliches Schneewittchen, andererseits ausgekochte teenage-bitch.“ Der männliche Jugendliche – auch 13 Jahre – wächst dagegen in gutsituierten Verhältnissen auf. Aber er erfährt, dass er ein Kind aus der Babyklappe ist. Er entführt ein Kind, um sich an seine leibliche Mutter „heranzupirschen“.

Der Film „Bastard“ (Regie Carsten Unger, 2010), so erzählte die Schauspieler-Agentin Maria Schwarz, habe leider kaum Beachtung gefunden. Umso grösser war die Freude bei Antonia Lingemann.

Der Hessische Rundfunk war auch Koproduzent zusammen mit ARTE bei einem Film, der im Berlinale-Wettbewerb lief: „Jack“. Redaktion: Jörg Himstedt (hr), Georg Steinert (ARTE).

430-056

„Jack“ – Filmplakat in Berlin; Foto: Renate Feyerbacher

Edward Berger, der zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Nele Mueller-Stöfen, das Drehbuch schrieb und auch Regie führte, inszenierte bereits mehrere Fernsehfilme für den Hessischen Rundfunk, darunter die 2012 mit dem Adolf Grimme-Preis ausgezeichnete bittersüße Tragikomödie „Ein guter Sommer“.

Ivo Pietzcker spielt den zehnjährigen Berliner Jungen Jack, der zusammen mit seinem kleinen Bruder Manuel (gespielt von Georg Arms) seine Mutter sucht. Die Mutter liebt die Kinder, vergisst sie aber immer wieder. Sie ist selten zuhause, einmal wegen der Arbeit, aber vor allem wegen ihrer Liebschaften. Und auf einmal ist sie tagelang verschwunden und Jack sucht sie. Nicht nur Jack, sondern auch Manuel sind Fälle fürs Jugendamt, dem sie aber entweichen wollen. Jack wird dafür verantwortlich gemacht, dass sich der kleine Manuel in der Badewanne die Füsse verbrüht. Er muss ins Heim, wo er sich erwehren muss, wo er aggressiv wird. Als er zu Beginn der Sommerferien nicht von der Mutter wie versprochen abgeholt wird, türmt er. Aber die Mutter ist nicht zuhause und der Schlüssel zur Wohnungstür, der sonst immer davor versteckt wird, ist nicht da. Eine Odyssee der beiden Kinder durch Berlin, Tag und Nacht, beginnt. Sie schlafen auf Parkbänken, in Tiefgaragen. Jack wird auch zum Dieb.

Ohne Pathos wird die Situation von vernachlässigten Kindern erzählt. Der Film klagt nicht an, macht aufmerksam auf die Situation vieler Kinder in Deutschland. Ein Stück Realität. Der selbstbewusste, mutige Jack macht aber auch Hoffnung auf eine Zukunft. Am Ende trifft Jack eine Entscheidung: sie ist schmerzhaft, aber mutig und gut.

Jack_Ivo_Pietzcker

Ivo Pietzcker in dem Film „Jack“; Bildnachweis: © HR / Port-au-Prince-Filmproduktion/Jens Harant

Der elfjährige Ivo Pietzcker begeistert durch sein natürliches und intensives Spiel. Nie hat er zuvor vor einer Kamera gestanden. Seine Reife fasziniert. Kleiner, grosser Star wird er genannt und manche munkelten, er könne einen Bären gewinnen. Er gewann ihn nicht.

Ein Film, den man nicht verpassen sollte (Kino-Start im September 2014).

Besonderer Hinweis: „Master of the Universe“ läuft am 29. März 2014, 18 Uhr, im Filmmuseum Frankfurt (in Anwesenheit von Rainer Voss).

Es wird – vor allem von interessengebundener Seite – geschimpft auf die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und ihre Programme, mitunter zu Recht, sowie auf den vermeintlich hohen Rundfunkbeitrag. Doch teuer und allemal ihr Geld wert sind die Produktionen, für die jetzt beispielsweise der Hessische Rundfunk als Koproduzent drei Auszeichnungen verbuchen konnte – und für den Berlinale-Wettbewerbs-Beitrag „Jack“ viel Lob erhielt!

– Weitere Artikel von Renate Feyerbacher –

 

Comments are closed.