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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Oedipe“ von George Enescu an der Oper Frankfurt

Freier Wille oder Bestimmung durch das Schicksal?
Kann der Mensch dem Schicksal entrinnen?

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus /Oper Frankfurt; Renate Feyerbacher

Am 8. Dezember 2013 hatte die selten aufgeführte lyrische Tragödie „Oedipe“ von George Enescu in der sogenannten Frankfurter Fassung Premiere. Sie verzichtet auf den 4. Akt der Oper. Ausserdem gibt es musikalische Umarbeitungen im 3. Akt. Und das in Französisch geschriebene Libretto wurde ins Deutsche übersetzt.

Diese Veränderungen sind vor allen Dingen auf Regisseur Hans Neuenfels zurückzuführen.

H.N

Hans Neuenfels (am 22. Februar 2012 im Frankfurter Haus am Dom); Foto: Renate Feyerbacher

„Wir meinten, dass wir die radikale Geschichte des Mythos erzählen wollten und dass uns die Aufweichung, wie sie der vierte Akt in seiner Schilderung von Erlösung und damit von christlichen Begriffen erzählt, die Radikalität des Mythos zu bedrohen schien“ (Neuenfels, zitiert nach Programmheft). Eine nachvollziehbare Entscheidung, auch wenn es schade ist, nicht zu erfahren, wie Enescu diesen Gesichtspunkt musikalisch realisiert hat

. Auch die Übersetzung ins Deutsche (Henry Arnold, auch Dramaturg, seit 1998 kontinuierliche Zusammenarbeit mit Neuenfels) ist eine gute Entscheidung. Sie kommt dem herben Duktus der Musik besser nach als das Französische, das in seiner Geschmeidigkeit die Härte weniger scharf herausbringt.

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Simon Neal (Ödipus); Foto © Monika Rittershaus

Er habe keinen Gott aus Ödipus machen wollen, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut, uns ähnlich, hatte sich George Enescu (1881-1955), der rumänische Komponist und Interpret des mythologischen Stoffes, vorgenommen, als er die Idee zu dieser Oper entwickelte. Das war 1909, als er die Sophokles-Stücke in der Comédie Française sah. Bis „Oedipe“ realisiert war, vergingen drei Jahrzehnte, und nochmals fünf Jahre dauerte es, bis es zur Uraufführung 1936 in Paris kam. Höchstes Lob erfuhr der Komponist.

Einen musikalisch-logischen Aufbau gibt es nicht. Es sei daher schwer, den Kern, den das Werk verdeutliche, zu finden, sagt der Dirigent der Frankfurter Fassung, Alexander Liebreich. Daher müsse der Musik das Recht des ornamentalen Strömens eingeräumt werden. Das gelingt dem Orchester auch. Manchmal bricht ein Motiv abrupt ab. Eindrucksvolle Melodien im Sinne von Opernarien gibt es nicht. Es wird manchmal deklamiert. Sprechgesang. Vielfältig, gelegentlich wuchtig ist die Instrumentierung – ein Klangrausch, manchmal stark reduziert wie in der Schlüsselszene mit der Sphinx. Die Chorpartien sind umwerfend. Die Musik hebt den Text, der sich um die Frage dreht, ob der Mensch einen freien Willen hat, ungemein hervor.

Frage: „Stärker der Mensch als das Geschick?“ – die Sphinx. Antwort: „Der Mensch“ – Ödipus.

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Simon Neal (Ödipus; links sitzend), Vuyani Mlinde (Der Hohepriester; vorne in der Mitte stehend),  im Hintergrund hinter dem Ei stehend Tanja Ariane Baumgartner (Jokaste) und Hans-Jürgen Lazar (Laios) sowie den Chor der Oper Frankfurt; Foto © Monika Rittershaus

Während des Vorspiels betritt ein Archäologe (Ödipus) mit Taschen- und Stirnlampe ausgestattet die Bühne. Er sucht, leuchtet auf die mit mathematischen Formeln beschriebene Wand, notiert und wird Zeuge der Feier anlässlich der Geburt des Königskindes von Theben. Ein Ei schwebt herab, in dem das Kind liegt. Lieblich, pompös, fängt das Werk an, wird aber bald von Tiresias massiv gestört. Er weissagt, dass dieses Kind seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten wird. Es ist die Strafe der Götter, weil König Laios gegen ihren Willen ein Kind zeugte. Daraufhin wird ein Hirte mit der Tötung des Kindes beauftragt. Dieser lässt aber das Kind leben, das unter dem Namen Ödipus am korinthischen Königshof aufwächst. In Delphi wird ihm, als Ödipus erwachsen ist, das Orakel bestätigt. Er verlässt seine vermeintlichen Eltern und es kommt so, wie es vorhergesagt wurde. Zuerst heile Welt, dann Zerstörung.

„Nichts, was ich getan, war ein Akt meines Willens.“ „Das war ich nicht.“ – Ödipus

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Simon Neal (Ödipus) und Katharina Magiera (Die Sphinx); Foto © Monika Rittershaus

Regisseur Hans Neuenfels (geboren 1941) – schon zweimal von der Zeitschrift Opernwelt als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet – hat viele Jahre in Frankfurt inszeniert: im Schauspiel (Ära Peter Palitzsch), in der Oper (Ära Michael Gielen) und so manchen Theaterbesucher provoziert. Ich denke an die bahnbrechenden Inszenierungen von „Medea“ (1976) und Verdis „Aida“ (1981), die die Frankfurter Gemüter erhitzten.

Das Thema Mythos beschäftigt Neuenfels ständig: „Das Raster der Mythen drückt sich durch die Jahrhunderte wie ein unverletzbares, stählernes Rückgrat, um das sich ständig junges Fleisch bildet. Die Betrachtung, die Form variiert unentwegt, das Thema bleibt“ (Hans Neuenfels, „Das Bastardbuch“, Autobiografische Stationen, 2011, S. 94).

Diese intensive Auseinandersetzung in Enescus „Oedipe“ mit dieser Figur ist immer wahrzunehmen. Ödipus ist für Neuenfels „Realität unseres eigenen Erlebens“ – eine Parabel für die Entscheidungen, die wir ständig zu treffen haben. Entsetzt erleben wir mit, wie die anfänglich heile Welt zerstört wird. Die Frage: „Haben wir überhaupt einen freien Willen?“ lässt uns nicht los.

Schriftzüge an der Formel-Wand fokussieren diese Gedanken immer wieder.

„Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung.“

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Simon Neal (Ödipus) und Tanja Ariane Baumgartner (Jokaste); Foto © Monika Rittershaus

Diese Frage beschäftigt die Wissenschaftler, die Forscher schon seit Jahrhunderten. Nun wurde über sie in den letzten Jahren besonders diskutiert, nachdem die Neurowissenschaftler Gerhard Roth, Wolf Singer und andere vom freien Willen als Illusion sprachen. Experimente an der Berliner Charité bestätigten diese These. Wenn es so wäre, müsste unser komplettes Rechtssystem umgeschrieben werden. Denn es gäbe keine Schuld.

Andere Neurowissenschaftler und Hirnforscher und Vertreter anderer Fachbereiche, vor allem die Philosophen, halten dagegen.

Nun gibt es in London neue Experimente eines Hirnforschers, der von einer Art „Gehirn-Veto“ als einem weiteren System spricht, das Entscheidungen überwacht. Also der freie Wille doch nicht nur Illusion?

All diese Gedanken treibt diese Inszenierung grandios auf den Höhepunkt. Zum Beispiel in der Figur des Tiresias – eindrücklich gesungen und gespielt von Magnús Baldvinsson. Blind, heruntergekommen, ständig zuckend, sich stützend auf ein Gittergestell tobt er gleich zu Beginn, als die Namensfindung für das Neugeborene voll im Gang ist. Später wiederholt sich dieser Auftritt noch einmal gesteigert, wenn er die Fakten – Tötung des eigenen Vaters, Inzest mit der eigenen Mutter – bestätigt.

Regisseur Hans Neuenfels konnte mit einem erstklassigen Sängerteam arbeiten, das bis auf die Hauptrolle mit Mitgliedern aus dem Ensemble besetzt werden konnte. Um nur einige zu nennen: mit Tanja Ariane Baumgartner als Jokaste, mit Katharina Magiera als Sphinx, Jenny Carlstedt als Merope, mit Kihwan Sim als Phorbas und dem bereits erwähnten Magnús Baldvinsson als Tiresias.

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Simon Neal (Ödipus) und den Chor der Oper Frankfurt; Foto © Monika Rittershaus

Der englische Bariton Simon Neal, der schon mehrfach an der Oper Frankfurt zu hören war, sang, deklamierte und spielte den Ödipus. Eine grossartige Leistung, für die das Publikum sich bei ihm begeistert bedankte. Neal meistert diese Gratwanderung zwischen Gesang und Deklamation überzeugend. Manchmal klingt seine Stimme anmutig, manchmal rauh und herb, je nach Stimmungslage dieses am Ende schier verzweifelten Menschen, der sein Volk gut lenken wollte. Er nimmt sich selbst das Augenlicht, weil er die Wahrheit des Orakels nicht erkannte, und verlässt mit Tochter Antigone die Stadt. Seine Mutter-Ehefrau tötet sich.

Wie auf der Schulbank sitzt sein Volk (der Chor), das er zunächst barsch zurechtweist, dann aber, als er die Wahrheit erkennen muss, sich vor ihm windet. Der Chor der Oper Frankfurt, ergänzt durch einen Extrachor, einstudiert von Matthias Köhler, trumpft gewaltig auf und konfrontiert ihn wuchtig mit der Wirklichkeit.

Schon bei der Oper „Penthesilea“ von Othmar Schoeck (Premiere 2011) haben Neuenfels und der Dirigent Alexander Liebreich zusammengearbeitet – ebenso mit der Kostümschöpferin Elina Schnizler, die elegante, auch witzige Kostüme schuf. Mit dabei damals auch die Sängerin Tanja Ariane Baumgartner, die die Penthesilea sang.

Interessant ist das Bühnenbild von Rifal Ajdarpasic mit seiner mit Formeln beschriebenen Wand, mit den Schulbänken – zu übertrieben jedoch das Bild, wo sich die drei Wege kreuzten und der Mord geschah.

Am 6. Februar 1981 schrieb der Kritiker in der ZEIT zu Neuenfels‘ „Aida: „in seiner Gesamtheit eines der präzisesten und konsequentesten, wenngleich nicht alltäglichen Konzepte einer Opernregie der letzten Jahre“.

Auch diese Oedipe-Inszenierung lässt sich so beurteilen.

Oedipe“ von Georges Enescu, diese hochinteressante Neuentdeckung, wird an der Oper Frankfurt am 18., 22. und 28. Dezember 2013 sowie am 3. und 5. Januar 2014, jeweils um 19.30 Uhr aufgeführt.

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