home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 13


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Dreizehntes Kapitel

19.6.

Lieber Markus,

Wir reisen morgen ab, ohne dass ich das Geheimnis des Hotels gelüftet hätte – wenn es denn eines gäbe. Ich muss mich mit der Oberfläche dieser Welt, wie sie mich umgibt, zufriedengeben, die Katakomben spuken in meiner Fantasie noch ein wenig weiter. Ab und zu spreche ich meine Frauen darauf an: Ob dieser oder jener Kellner nicht ausgebeutet aussehe? Ob wir der Pizza vertrauen könnten, die der Bursche im Nachmittagsdienst gebacken hat – jener, der nach Überzeugung des Deutschländers „unhygienisch“ sei, weil er sich nach der Toilette nicht die Hände wasche? Sie halten es für möglich, aber dem Deutschländer glauben sie nicht. Sogar die vornehme Afet isst die Pizza. Und Zila schlägt die Warnung, dass das hiesige Internet über WLAN vor Viren nur so strotze, lachend in den Wind – bisher haben sich die bösen Infektionen nicht bemerkbar gemacht.

Und was war das nachts am Meer für ein Polizeieinsatz? Was haben ihre Erkundigungen ergeben? Nichts. Keine Informationen. Es scheint so, als habe es das Blaulicht nur in meinem Kopf gegeben. Leider habe ich versäumt, den Deutschländer darüber zu befragen – aber was wäre damit gewonnen, wenn er mir eine Geschichte dazu erzählt, die die anderen wieder verwerfen?

Auch in der grossen Geschichte der türkischen Innenpolitik bin ich verwirrt. Ich habe meine Frauenumgebung befragt, ob denn Erdogan nicht demnächst abgewählt würde? – Die nächste Wahl sei erst nächstes Jahr, und dabei werde ohnehin manipuliert.

Sind denn die Wahlausschüsse nicht mit unterschiedlichen Parteigängern besetzt? – Nein, die habe die Regierung angeblich ganz unter Kontrolle. Ich weiss aber nicht, ob sie meine Frage überhaupt richtig verstanden haben, denn ich kann mir keine Demokratie vorstellen, die nicht die Neutralität der Wahlausschüsse garantiert.

Was sagt denn jetzt eigentlich die Meinungsforschung? Hat Erdogan nicht gewaltig an Zustimmung eingebüsst? – Nein, angeblich geniesse er nach wie um 50% Zustimmung¹), aber den Umfragen könne man nicht trauen, sie seien von der Regierung gelenkt.

Und die Opposition, nutzt die nicht die Lage aus, um sich aufzubauen? – Nein, da gäbe es keine Partei, die einen überzeugenden Führer habe, die seien zu zaghaft oder töricht, niemand könne Erdogan Paroli bieten. Erdogan sei so, wie ein erfolgreicher Politiker sein müsse: Selbstsicher, zupackend, kompromisslos, chauvinistisch. Dagegen der Chef der kemalistischen CHP-Partei: So höflich, so vorsichtig und ausgewogen. Der sei eigens nach Istanbul gekommen, an die Front in Taksim, um die Protestbewegung für sich zu gewinnen. Und was habe er gemacht? Zuerst einmal habe er einem Polizisten die Hand gegeben. Damit sei er für die Bewegung erledigt!

Überhaupt glauben meine Informantinnen nicht, dass die Türkei eine Demokratie sei: Die Regierung könne sich nur halten, weil „Amerika das so will“. Meine entsetzte Nachfrage bestätigte, dass es sich hier um eine Art Verschwörungstheorie handelt, derzufolge Obama für die Politik in der Türkei verantwortlich sei. – Nach der Lektüre der Vietnam-Geschichte rechne ich bei US-Administrationen jederzeit mit Skrupellosigkeiten, aber warum sollten sie die türkischen Islamisten unterstützen? – Sie haben weder plausible Gründe noch Belege – statt Klarheit bekomme ich Verdruss, und so ist das Gespräch für mich erledigt.

Demokratie ist ohne eine verlässliche Informationsbasis unmöglich. Und hier wird gelogen und verdreht und verschwiegen und verhetzt, wie wir es von der Boulevard-Presse kennen. Wer ein wenig Intelligenz besitzt, glaubt den offiziellen Organen nicht mehr und macht sich seinen eigenen Reim (auch wenn das bei Verschwörungstheorien schiefgeht).

Deshalb sind eigene Kontakte so wichtig: die Redekultur, die durch die digitalen Medien enorm unterstützt wird. Rede mit diesem, rede mit jenem, rede mit vielen anderen, dann kann man die Lügen gegeneinander ausspielen und sich ein eigenes Bild machen. Daher glaube ich meiner Frauenumgebung jetzt doch, dass der Deutschländer fantasiert hat, denn die Frauen sind es, die hier viel reden, und wenn nur einer von Unterwelt spricht, wird er von allen anderen, die ihn nicht bestätigen, indirekt widerlegt.

Jetzt verstehe ich auch besser, welch absurdes Bild ich hier abgebe, wenn ich kaum rede, stattdessen lese: Ich wirke so gestört wie ein Verrückter, der sich von der Realität abschottet (dabei lese ich doch die Frankfurter Rundschau).

Ich sollte wohl die direkten Kontakte höher schätzen.

Mit dem Säugling auf dem Arm spaziere ich herum, mich umschauend, wer noch so da ist. Am Pool lacht mich eine hübsche junge Frau im Bikini an – eine der Prinzessinnen der Nacht! – Nein, sie lacht nicht mich, sondern mein Baby an. Ich gehe zu ihr hin, sie flirtet mit dem Baby, das zurücklacht. Sie reagiert kaum auf mein Englisch, und ich finde mich damit ab, dass mein Baby sich besser als ich verständigen kann.

Vorhin bin ich, der Virengefahr trotzend, wieder auf FR online gegangen. Die Protestbewegung weicht kreativ der Gewalt aus, indem Demonstranten vereinzelt und still auf den Gehwegen stehenbleiben.²)  So will ich mit Optimismus schliessen.

Doch muss noch vermerkt werden, wie schwer Zara von ihren Verwandten scheidet, ja es sind nicht nur die familiären Bande, die sie wieder für unabsehbare Zeit lösen muss, sondern ihre ganze Kultur des Redens, des Verstehens, des Verbundenseins. Für mich dagegen wäre das alles kein Grund für Traurigkeit, im Gegenteil, solche Nähe zu Verwandten würde schnell zu Problemen führen – das gehört wohl auch zum Kulturunterschied. Ich werde allerdings die Betreuung der Kinder vermissen: sind doch alle Frauen einschliesslich Afet so kinderliebend und auch kinderfreundlich, dass wir ihnen unsere Kinder vorbehaltlos anvertrauen konnten. Wie erfreulich ist das für alle gewesen! Unser europäisches Kleinfamilienmodell erscheint mir dagegen ganz unnatürlich, strapaziös zu sein. Doch wollen wir nicht zurück zur Grossfamilie. Bei uns hängt alles an den Kitas, und da hapert es meistens an der personellen Ausstattung. – Ach, du siehst, ich bin gedanklich schon in Deutschland gelandet, und das ist mir unlieb.

Stattdessen will ich gedenken: Unser Besuch ist doch noch ein Urlaub geworden, dank Zaras Familie. Ja, ich erinnere mich an einen Tag in Izmir, als ich Zelal fragen liess: Willst du dich nicht mal ausruhen? Wie kannst du so viel für uns arbeiten – einkaufen, kochen, Kinder betreuen, putzen, waschen? – Sie antwortete, es werde ihr nicht zu viel, weil sie alles mit Liebe mache.

______________________________________

¹) In der Frankfurter Rundschau heisst es am 27. Juli 2013: „Das harte Vorgehen gegen Demonstranten hat die türkische Regierung nach einer Umfrage Sympathiepunkte bei den Wählern gekostet. Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) käme im Falle einer Parlamentswahl nur noch auf 44,1 Prozent, zitierte die Zeitung ‚Hürriyet Daily News‘ am Samstag aus einer Umfrage des Meinungsinstituts Sonar. Im Februar 2012 seien es noch 53,2 Prozent und im vergangenen November 47,3 Prozent gewesen. (dpa)“

²) FR-Bericht vom 19. Juni 2013

(Fotos: © Robert Straßheim)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /14 (Schluss)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

 

Comments are closed.