home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 12


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Zwölftes Kapitel

16.6.13

Lieber Markus,

des Nachts tobte draussen eine endlose Alkohol-Party, eigens für eine Gruppe von Universitätsabsolventen. Abends, als sich das zusammenbraute, wollte unser Alinakind auf meinem Arm zu den grossen „Prinzessinnen“ getragen werden, von wo aus sie sie ausgiebig bewunderte, wie sie sich in ihren Abendkleidern in der Strandbar präsentierten, zu zweit, zu dritt für Fotos posierten, mit schnieke feinen Anzugs-Herren, die später, in der Nacht, gar nicht mehr fein brüllten und röhrten wie wilde Tiere. Um drei Uhr bemerke ich Blaulicht am Strand, Polizei und Suchscheinwerfer – das haben sie davon, besoffen ins Meer zu springen, denke ich, und es kehrt Ruhe ein.

Am Morgen frage ich meine Frauen nach diesem Zwischenfall, aber sie haben nichts gesehen, nichts gehört, wollen sich aber mal erkundigen.

Mit Schlafstörungen hat dieser Tag begonnen, und nachmittags werde ich anderweitig strapaziert. Da gibt es an der Strandbar mal wieder Verwirrung um meinen schlichten Wunsch:

„Please, I want hot water in a cup.“

Der Barkeeper greift zu einem Einwegbecher.

No, please, I want the water in a cup, in a china cup!“ (Aus meinem Roman „Gone with the Wind“ weiss ich, dass Porzellan auf Englisch „China“ heisst.)

Der Barkeeper indes ist verwirrt. Er holt eine Plastikflasche mit Wasser aus dem Kühlschrank. Das kann ich brauchen und nehme sie entgegen. Um auf meinem eigentlichen Wunsch zu beharren, hole ich diese höflichen Türkisch-Brocken hervor:

„Teşekkür ederim. Seçak Su, lütfen.“

Der Barkeeper zeigt auf den Automaten, der Heisswasser spendet und den die Gäste selber bedienen dürfen; ein Stapel Einwegbecher steht dort zur Verfügung.

Das nützt mir aber nichts, weil kein vernünftiger Mensch aus Papp-Plastik-Bechern trinkt, und Tee schon gar nicht! Wozu stehen da auch Porzellantassen – aber leider hinter der Theke, also für Gäste unerreichbar.

Please, I need a cup. A china cup.“ Ich deute heftig auf den Stapel mit den Tassen.

Tatsächlich nimmt er jetzt ein Tasse, hält sie auch richtig unters Brühgerät – und drückt die falsche Taste! Er stellt die Tasse mit dampfendem Kaffee vor mir ab.

Ich kenne das schon: Immer wieder drücken sie die Taste für Kaffee statt für heisses Wasser. Und immer kippen sie das falsche Getränk völlig gelassen in den Ausguss.

I’m sorry, I don’t want coffee. Seçak su, lütfen!“

Plötzlich mischt sich eine fremde Stimme ein: „Was willste‘n haben?“

Ich schaue mich um, da steht der Deutschländer, der mir schon öfter aufgefallen ist: ein dicker Urlauber, gelbes T-Shirt, Sonnenbrille, Bierbauch. Ich erkläre kurz, er dolmetscht, der Barkeeper schüttet den Kaffee weg, und ich kriege das Gewünschte.

Glücklich hänge ich meinen Teebeutel ins Wasser hinein und meine Nase ins Indochina-Buch.

Was ich lese, ist von einer anderen Welt, einer Welt ohne Recht, ohne Sinn, ohne Sicherheit, den nächsten Tag zu überleben: das Kampuchea der Roten Khmer unter Pol Pot (1975 bis 1979).

Pol Pot stülpte der Bevölkerung ein radikales Programm über: „Auflösung der Dorf- und Familiengemeinschaft, Abschaffung jeglichen Privateigentums und des Geldes, ständige und totale Überwachung. Täglich wurden den Menschen die ‚vier Negationen‘ eingeschärft:

‚Nichts sagen, nichts hören, nichts sehen, nichts verstehen.‘

Diskussionen politischer Probleme waren selbst den Parteimitgliedern und örtlichen Kadern verboten, es wurde die blinde Ausführung aller Befehle erwartet, die von oben kamen“.1)

Es wurde eine Art kollektiven Zusammenlebens eingeführt, mit militärisch organisierter Arbeit, wie im Gefängnis „organisierten Tagesabläufen, kollektiven Mahlzeiten, strikter Trennung der Wohnungen von Frauen, Männern und Kindern, absolutem Reise- und Kotaktverbot und Massen-Zwangsheiraten.“

Dies wurde mit äusserster Brutalität durchgesetzt: Das Terrorregime der Roten Khmer ermordete über ein Viertel seiner eigenen Bevölkerung.

„Nach Meinung der Roten Khmer waren überhaupt zu viele Menschen [ca. 7 Millionen] da, um eine wirkliche Kontrolle zu gewährleisten: ‚1 bis 2 Millionen junge Leute reichen aus, um das neue Kambodscha zu erschaffen.‘ „

Kambodschanische Mütter stillten ihre Säuglinge nicht mehr, weil es keinen Sinn hatte: So oder so starben sie! Jedwede Bindung und Moral verfiel.

Fassungslos muss ich immer wieder vom Buch aufschauen, schwer schlucken, das Grauen in meinem Kopf beisst sich mit dem schönen Meeresblick, da taucht der Deutschländer wieder auf und setzt sich zu mir.

Ob die hier Englisch verstehen oder nicht, so redet er auf mich ein, liege meist am Geschlecht – Probleme in der Verständigung hätten sie meistens bei männlichen Gästen. Sie arbeiteten ja hier für einen Hungerlohn, die einzige Motivation sei die Hoffnung, eine europäische Frau zum Heiraten zu finden. Mir war gar nicht aufgefallen, dass alle Kellner hier jung und gut gestylt sind.

Nach fünf Minuten hat der Deutschländer alles über mich und meine Begleiterinnen herausgefunden, was er wissen wollte. Unsere soziale Schicht hatte er ohnehin schon erraten, angesichts der Bikinis und Apple-Geräte. Er bereue bitter, in dieses Hotel gekommen zu sein, das nach dem Verkauf an einen Rumänen schwer auf Abwege geraten sei. Er habe sich mit vielen Bediensteten und Gästen unterhalten.

Zwischen uns beiden klafft eine Bildungskluft, aber wie es scheint, ist das zugleich eine Realitätskluft, denn ich bin hier mit meinen Bücher und Kindern und Frauen und der Sorglosigkeit um unsere rundum gegebene Versorgung ganz und gar zufrieden, sodass ich gar nicht auf die Idee käme, zu fragen, ob da etwas nicht stimme?

Jetzt aber muss ich hören, dass ich nur die schöne Oberfläche dieser Welt wahrnehme, denn der neue Besitzer fahre einen brutalen Sparkurs. Besonders überrascht bin ich nicht; aber der Deutschländer will noch mehr wissen: Wenn er mir erzählen würde, wie es dem Personal ergehe, könne ich meinen Tee nicht mehr geniessen, meint er – und fährt trotzdem gleich mit seinen Enthüllungen fort:

Drei Geschosse habe unser Hotel über der Erde – und unter der Erde ebenfalls drei Stockwerke, wo sich die Betriebsräume sowie die Schlafräume des Personals befänden. Man könne sich nicht vorstellen, wie es hinter der letzten, verschlossenen Tür des noch offen zugänglichen Gangs des Kellers weitergehe: Nur Personal habe dort Zutritt, aber Mitarbeiter hätten ihm anvertraut, wie es dort noch zwei weitere Ebenen tiefer hinab gehe, natürlich nicht mehr per Fahrstuhl.

Nun wird mir tatsächlich mulmig, denn ich habe kürzlich von einer deutschen Fernsehreportage gehört, die Fürchterliches über türkische „All-inclusive-Hotels“ berichtet hat: minderwertige, oft schon schlechte Zutaten in der Küche, die mittels Zusatzstoffen und künstlichen Aromen aufgepeppt würden; Stress beim Kochen, moderne Sklaverei mit Hungerlöhnen – da ist unser Hotel wohl keine Ausnahme.

Diese armen Schlucker verdienten, behauptet der Deutschländer, hier so wenig Geld, dass sie es sich nicht mal leisten könnten, an ihrem einen freien Tag in der Woche die Ortschaft zu verlassen; einer sei fristlos gefeuert worden, weil er an seinem freien Tag mit einem Gast gesprochen habe. Das Schlimmste aber sei das neu eingeführte Gewerbe: Zur Zeit seien fünf Prostituierte und vier Zuhälter im Hotel. Unsere jungen Frauen solle ich warnen, wenn der Animateur sie anspreche: Vorsicht! Von ihm oder von anderen Fremden keine Getränke geschweige denn Einladungen annehmen, man hüte sich vor Rumänen, Russen und Polen, auch sei die griechische Mafia vertreten. Wir sollten nicht annehmen, dass die Hotelleitung eingreifen würde: Die verdiene ja dabei mit.

Ich frage nicht, und muss sehr betreten dreinschauen, denn jetzt rät er mir sanft, ich solle die paar Tage hier noch überstehen, ohne irgend etwas aufzurühren, ich sei mit Frauen und Kindern hier, da dürfe ich nichts riskieren. Nur aufpassen, dass meine jungen Frauen nicht in falsche Hände gerieten!

Bestürzt laufe ich zu meinen Frauen, die vergnügt im seichten Wasser mit den Kindern plantschen, überschütte sie mit sorgenvollen Warnungen, und blicke in ein neugieriges, dann aber lachendes Gesicht: Alles Schwindel! Über diesen Deutschländer habe sie schon vor Tagen die Hotelbeauftragte aufgeklärt: Er sei schizophren! Allen Leuten erzähle er Gruselgeschichten, die er selbst erfinde.

Schizophren? Woher will die Beauftragte das denn wissen? Ich traue ihr nicht. Überdies meinte der Deutschländer, sie sei nur darauf aus, Fahrten zu verkaufen, und tatsächlich hat sie uns einen sehr teuren Transfer zum Flughafen vermittelt.

Zara tätschelt mich: „Mach dir keine Sorgen. Eher haben wir dich zu beschützen als umgekehrt!“

Na, dann geh ich mal lieber baden, schwimme ein Stück hinaus, geniesse das tiefe, kühlere Wasser, das mir keine Rätsel aufgibt.

Während des Abendessens schaue ich mich im neuen Bewusstsein um: Sind jene jungen, geschminkten Frauen in Minikleidern Prostituierte? Sehen die Kellner aus wie Sklaven? „Zuhälter“ sehe ich eine ganze Menge, aber es könnten auch normale Gäste sein. Ich entdecke weder Veilchenaugen noch höre ich Verzweiflungsschreie.

In welcher Realität leben wir denn nun? Es ist nicht objektiv zu entscheiden.

Die Frauen haben keine Zweifel in ihren Beziehungsgeflechten, aber ich, als sprachlich abhängiger Tourist, lebe hier wie in Watte gepackt: Man kriegt nichts mit von Ausbeutung, nichts von Unterwelt, nichts auch von den Demos. Am Strand begegnen sich gegensätzliche Kulturen, die sich tolerieren, ohne miteinander zu reden: Frauen mit Bikinis neben Frauen mit Ganzkörperverschleierungsbadeklüften. Ob das wohl mit FKK auch gut ginge?

Ich nutze meine freien Minuten lieber zum Lesen und greife nach meinem Giesenfeld:

Die Roten Khmer hetzten mit rassistischen Verleumdungskampagnen gegen Vietnam und verletzten immer wieder in blutigen Überfällen die gemeinsame Grenze. Nach dem Motto: Die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde wurde ihr Regime von China massiv unterstützt, und die USA haben dafür gesorgt, dass die Roten Khmer lange Zeit Kambodscha in der UNO vertraten. Die Roten Khmer griffen Vietnam 1977/1978 militärisch an, daraufhin besetzte Vietnam Kambodscha, verjagte die Roten Khmer und setzte eine Regierung ein, die das Land wiederaufleben liess.

In den westlichen Schlagzeilen aber galt Vietnam als Aggressor und Imperialist, die Flagge der Roten Khmer wehte (bis 1992) weiter offiziell vor der UNO in New York.2)

Aus dem Internet erfährt Zila, dass die Polizei in einem unsäglich rücksichtslosen Einsatz den besetzten Taksim-Platz in Istanbul noch vor Ablauf eines Ultimatums geräumt habe, unter schonungsloser Vergiftung des ganzen Areals mit Tränengas.

Dass sich zufällig auch die deutsche Grünen-Vorsitzende Claudia Roth unter den Opfern befindet, finde die türkische Regierung gut: Da lerne sie mal, wie Ordnung gemacht wird.

Wie ich – dank Zila, die mir ihr Notebook leiht – in der FR online nachlese, äussert sich Roth durchaus beeindruckt, aber anders herum:

„Sie musste von freiwilligen Helfern verarztet werden, als Polizisten Tränengas in die Lobby des Hotels schossen. Jetzt sagt sie: ‚So muss wohl Krieg in Städten aussehen.‘ Sie wirft Erdogan vor, ohne Not die junge Demokratiebewegung brutal niederzuwerfen.“3)

Tatsächlich drohe Erdogan neuerdings mit dem Einsatz des Militärs gegen die Demos.4) Kein Wunder, habe er doch kürzlich beteuert, „die Demonstranten würden in der Türkei nicht anders behandelt als in den USA oder Europa – oder ‚in Russland und China‘ „5) – mit letzten hat er wirklich die allergrössten demokratischen Vorbilder!

______________________________________

¹) dieses und die zwei nachfolgenden Zitate: Günter Giesenfeld: Land der Reisfelder. Vietnam, Laos und Kambodscha. Geschichte und Gegenwart. 2013, Argument Verlag, S. 230-287
²) Günter Giesenfeld, aaO., S. 280ff
³) FR-Bericht vom 16. Juni 2013
4) FR-Bericht vom 17. Juni 2013
5) vgl. Fn. 3

(Fotos: © Robert Straßheim)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /13

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

 

Comments are closed.