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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Jewyo Rhii im MMK-Zollamt

Walls to Talk to

Es gilt immer noch das alte Wort von Michail Gorbatschow: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Nun wollen wir nicht bestraft werden, und wir sind zwar spät, aber – hoffentlich – noch nicht zu spät: Bis kommenden Sonntag, 1. September, 18 Uhr ist eine wundervolle Ausstellung in der Dependance Zollamt des Frankfurter Museums für Moderne Kunst zu sehen, deren Besuch wir jedem für zeitgenössische Kunst Aufgeschlossenen ans Herz legen, falls er sie noch nicht gesehen hat. Wie stets dazu die Bitte: sich Zeit lassen, sich darauf einlassen, sich mitnehmen lassen …

Es ist sehr viel an Persönlichem und Intimem, was wir zu sehen bekommen, es zeugt von viel Sensibilität, Zartheit und Verletzlichkeit der Künstlerin. Ein kleines Universum an verschiedensten Aufbauten, viel Zeichnungen und einigen Videos, darüber hinaus eine Menge an Gefundenem, Aufgelesenem und Gesammeltem. Jewyo Rhii erzählt von ihrem Leben, einem ständigen Wandel zwischen den Kontinenten Asien, Amerika und Europa, einem Leben von wohnsitzloser Unbehaustheit und doch Sehnsucht nach Behausung, so lesen wir es aus ihren Arbeiten heraus. Man könnte das alles natürlich einfach eine raumgreifende Installation nennen, aber es ist so sehr viel mehr: versammelt sind Schmerz und Liebe, Angst und Zuversicht, Entsagung und Glücklichsein, Poesie und Humor …

Moving Floor, 2011/2013, Holz, Metall, Rollen

Da ist zunächst der schwankende, sogar rollende Boden des „Moving Floor“, der einen grossen Teil der Ausstellungsfläche bedeckt und dem Besucher den gewohnten sicheren Schritt und Tritt unter den Füssen entzieht, ihm die Unsicherheiten des Lebens unmittelbar körperlich erfahrbar macht.

Im Zentrum der Ausstellung steht das Projekt „Night Studio“ (Seoul 2009 bis 2011): Erinnerung und Teilrekonstruktion einer temporären Wohnung der Künstlerin in einem belebten Viertel der Stadt, die sie einige Male Besuchern als Kunstwerk zwischen privatem Raum und öffentlichem Bereich öffnete. Eine Reihe selbst konstruierter skurriler Schreibmaschinen und „Klimaanlagen“ zählen dazu, ein Heimkino, Türen oder ein Kronleuchter. Und Sperrmaterialien aller Art, auf einer Terrasse oder einem Balkon angebracht, um sich in der Unsicherheit der Grossstadt mit einem Schutzwall unliebsamer Eindringlinge zu erwehren. Stacheldraht wie stachelige Kakteen helfen, den Schutz der Verängstigten zu verstärken:

Fence, 2010-2011/2013, Holz, Metall, Draht, Stoff, Pflanzen, Plastik

„Für Rhii erinnert sich der Körper stärker als der Geist an Orte und Dinge. Bei ‚Night Studio‘ verschwinden bewusst die Grenzen zwischen häuslichen Objekten, privatem Raum, Kunstwerk und Ausstellung. Das Aufeinandertreffen von privatem und öffentlichem Raum ist ein wichtiger Aspekt im Werk der Künstlerin“, so Peter Gorschlüter, Stellvertretender MMK-Direktor und Kurator der Ausstellung.

Reminiszenzen an eine Wohnung: eine Tür, ein „Kronleuchter“.

Skurril und doch effizient, ein wenig hilflos und doch raffiniert-intelligent und ungemein poesivoll sind Rhii’s „Klimanalagen“, in ihrer Seouler Wohnung sollen sie ihr das Leben erleichtert haben: kleine Kühlsysteme, auf einen Eisblock gerichtete Ventilatoren bringen diese zum Abschmelzen, das kalte Wasser rinnt in Schalen und Schüsseln. Bemerkenswert: ein vom Haushaltsstrom gespeister Ventilator treibt einen zweiten, stromlosen an, erst dieser erzeugt den das Eis umfächelnden Luftstrom. Mehrere dieser Vorrichtungen befinden sich in der Ausstellung.

Cooling System (Itaewon), 2009, Eis, Ventilator, Tisch, Metallplatte, Metallbehälter

Ein kleines Heimkino hat sich Jewyo Rhii gebaut: Wieder treibt ein Ventilator einen stromlosen zweiten an, der über eine Achse ein Rad mit Filmmaterial bewegt, eine einfache Lampe projiziert ruckelnde Bildchen aus jener Zeit, die die Künstlerin in besagter Wohnung in Seoul verbrachte, auf eine dunkle Fläche.

Ein Werk voller Poesie sind Rhii’s Arbeiten, wie wir bereits bemerkten: wunderbar ihre in verschiedenen Grössen und Formen selbst gebauten Schreibmaschinen, wiederum grotesk bizarre, oft grossvolumige Apparaturen, die gleichwohl eine gewisse Funktionalität besitzen. Als Materialien dienen Holz, Metall, Schaumstoff, mitunter Stein. Die sperrigen Typenhebel, mit Faustschlägen und erheblichem Körpereinsatz zu bedienen, schlagen Zeichen und Buchstabengruppen, die sich dem geduldig Lesenden zu kleinen Erzählungen fügen, an die Wände.

„Jewyo Rhii besitzt eine große Affinität zum Erzählerischen und dem Buch, das sie in den ersten Jahren ihres Schaffens vorwiegend als Medium ihres künstlerischen Ausdrucks verwendete. Texte und Schriftbilder durchziehen Rhiis gesamtes Werk“, so das MMK. Ähnlich auch das ursprünglich für eine Buchveröffentlichung vorgesehene Konvolut von 90 Zeichnungen der Werkgruppe „Two“ (1999–2002).

Berührend auch die Installation im Eingangsbereich, wir lassen die Künstlerin erzählen: “ ‚Lie on the Han River‘ ist mein Blick auf die Dinge, die um mich herum passierten, als ich jung war und Künstlerin mit allen den Unsicherheiten. Es ist eine halbfiktive Geschichte über zwei Menschen in Seoul, sie ist Künstlerin, und er will nicht unter dem koreanischen System arbeiten … Ich mochte diesen Jungen, ich unterhielt mich gerne mit ihm. Also fingen wir an, uns zu verabreden.“ Für die Liebenden sei eine Wohnung für ein gemeinsames Leben in Seoul nicht erschwinglich. Stattdessen hätten sie sich am Ufer des Han River getroffen. Als der Winter eingebrochen sei, hätten sie sich entschieden, getrennte Wege zu gehen. „Lie on the Han River“ sei die poetische Visualisierung des Liebesbriefes der Frau, die darin ihren Freund bittet zurückzukehren.

Lie on the Han River, 2005 – 2013, Zeichnungen, verschiedene Materialien, Video

Jewyo Rhii, 1971 in Seoul geboren, wo sie auch heute lebt und arbeitet, studierte an der EWHA-University, Department of Fine Art, in Seoul, an der Graduate School of Fine Arts, University of Pennsylvania, Philadelphia, sowie am Chelsea College of Art and Design in London mit den Abschlüssen Bachelor of Fine Arts und Master of Arts. 2010 erhielt sie den renommierten Yanghyun Foundation Price. Zur 51. Biennale Venedig 2005 bespielte sie den Koreanischen Pavillon.

Obschon die Künstlerin bereits vielfach und weltweit ausstellte – unter anderem in Amsterdam, Basel, Bonn, Düsseldorf, Eindhoven, Graz, Gwangju, Istanbul, London, Magdeburg, New York, Paris, Philadelphia, San Francisco, Tokio oder Umea – handelt es sich jetzt im Frankfurter MMK um ihre erste grosse Einzelausstellung in Deutschland. Nun, es war absolut an der Zeit!

Jewyo Rhii, „Walls to Talk to“, Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main – Zollamt –, bis 1. September 2013

Abgebildete Werke Courtesy the artist and Galerie Ursula Walbröl, Düsseldorf; sowie Sammlung Gaby & Wilhelm Schürmann, Herzogenrath; Fotos der Ausstellungsansichten: FeuilletonFrankfurt

 

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