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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 6


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Sechstes Kapitel

8.6.

Lieber Markus,

es ist schon elf, der Abend fast vorbei, bevor ich die Chance zur Ruhe habe – damit geht die schwere Entscheidung einher: schreiben oder lesen? Ich will einen Kompromiss suchen: schreibe dir nur kurz, um nicht ungelesen schlafen zu müssen, was ja noch schrecklicher wäre als ungewaschen.

Leider leider schlafen die Kinder erst so sehr spät ein, ohne Kindergarten geht die Struktur verloren. Der Kindergarten fehlt uns (nur Alina nicht), Dila arbeitet, Zelal kocht und putzt, also haben wir nicht mehr freie Zeit als im Alltag, ist also kein Urlaub, sondern nur Klimawechsel – der allerdings ist höchst willkommen angesichts des Dauerwinters in Deutschland.

Ach, ich jammere zu sehr. Es ist gar nicht so schlecht: Wie glücklich sass ich gestern und heute im Café in einer Fussgängerzone, wo ich von meiner weiblichen Gesellschaft, die aufs Shoppen aus ist, zurückgelassen wurde mit dem schlafenden Baby im Manduca, sodass ich lesen konnte, ein, zwei Stunden lang lesen bis das Baby aufwachte, dabei Teetrinken: so ein leckerer Grüntee, der hier heimisch ist und der mir so oft ich will wieder aufgegossen wurde – brauchte dem Kellner nur zu sagen: „Seçak su“, und der geschniegelte Bursche lächelte und ging die Kanne mit heissem Wasser auffüllen, und ich trank und las, schaute auf ins Grün der Bäume, die lila Blüten trugen, und ab und zu bemerkte ich mal einen dieser erfreulichen Elektroroller, die vorbeisummen und uns atmen lassen. Selbst als das Baby aufwachte, war es noch lange nicht verdriesslich: Es spielte mit den Innereien der Tee-Kanne, die man auseinandernehmen konnte, und liess mich unbeschwert weiterlesen.

Heute jedoch wurde ich dort vom Lesen abgelenkt: ein etwa vierzigjähriger Türke, der in Köln aufgewachsen und mit 16 hierher übergesiedelt ist, kam mit mir ins Gespräch – er erwies sich als Kemalist. Izmir ist eine Hochburg der Sozialdemokraten – das heisst: Kemalisten. Daher die vielen nationalistischen Fahnen mit Atatürk als Zeichen des Protests. Im Bus schimpfte heute einer gegen die Polizei – auch er ein Opfer der Übergriffe. Mein Gesprächspartner im Café schimpfte vor allem, weil die Regierung den Alkohol verboten habe. Wir sind uns einig, dass religiöse Organisationen nicht in die Regierung gehören. Und die Kurden? Mein Gesprächspartner machte nur eine wegwerfende Handbewegung.

Demokratie ist die wohl schwierigste Staatsform. Schon bei uns hapert es an demokratiefördernder Bildung, und in der Türkei sieht es damit noch schlimmer aus. Man muss schon froh sein, wenn der Versuch nicht aufgegeben wird, dass dort überhaupt ordnungsgemäss gewählt wird. – Wobei ja die Wahl zwischen konkurrierenden Parteien an sich nicht das alleinige Kriterium für einen demokratischen Staat ist – habe heute in meinem Schmöker über Vietnam, wo ja ein Einparteiensystem besteht, eine erstaunliche These gelesen:

„… Demokratie und Mehrparteiensystem bedingen einander nicht, oder besser gesagt: Mehr Parteien [als eine] bedeuten nicht automatisch mehr Demokratie. Allein das Ziel der Demokratisierung ist wichtig.“1)

Nein, nein, lieber Markus, wie du weisst, kann ich beispielsweise einer SED-Diktatur rein gar nichts abgewinnen (und auch Vietnam ist keineswegs wie die DDR). Stattdessen interpretiere ich diese These in Richtung mehr Demokratie: Wir sollten uns nicht einbilden, dass nur auf Grund des Vorhandenseins eines Mehrparteiensystems alles bestens sei – denn das allein sagt noch nicht alles über die Tiefe einer Demokratie aus. Dafür sollten auch andere Kriterien berücksichtigt werden, nämlich die Art der Entscheidungsfindung und -Umsetzung – und zwar sowohl in den Staatsorganen als auch innerhalb der Parteien: Wird da offen und korrekt informiert und sachlich und kontrovers diskutiert? Wie transparent wird entschieden? Wie getreu werden Mehrheitsbeschlüsse nachher umgesetzt? Wie viel Demokratie wird durch Lobbyismus und Korruption zerstört? Wie wird die Macht kontrolliert bzw. mit Kritik an der Regierung umgegangen? Wie verlässlich werden Minderheiten und Menschenrechte geschützt …

Auch unser deutscher Parlamentarismus verdient da durchaus Kritik, hat er doch in existenziellen Entscheidungen dem Volkswillen widersprochen: Erlaubnis der Stationierung von Atomwaffen; Erlaubnis der Freisetzung genmanipulierter Pflanzen und Verkauf gentechnischer Lebensmittel ohne Kennzeichnung; Weiterbetrieb von Atomkraftwerken; Rente mit 67; Rettung von Banken um jeden Preis – alles durchgesetzt gegen eine anscheinend grosse Mehrheit des Volkes – und sogar gegen den Willen unseres Grundgesetzes, das im Artikel 20 ausdrücklich Volksabstimmungen vorsieht.²)

Jetzt aber will ich lesen: weiter vom Versagen der grössten Demokratie der Welt, den USA, Mitte des 19. Jahrhunderts: „Gone with the Wind“.

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¹) Nguyen Thi Binh, eine vietnamesische Politikerin, zitiert in: Günter Giesenfeld: Land der Reisfelder. Vietnam, Laos und Kambodscha. Geschichte und Gegenwart. Argument Verlag; S. 406

²) Heribert Prantl: Die Zeit ist reif für Volksentscheide. Süddeutsche Zeitung vom 26. 6. 2012

 (Fotos: © Robert Straßheim)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /7

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

 

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