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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei / 4


Erzählung in Briefen

© von Robert Straßheim

Viertes Kapitel

4.6.13

Lieber Markus,

heute ist unser kleiner Stadtpark seiner guten Seelen ledig: Ich spürte schon gleich, dass etwas fehlte, und in der Tat: weit und breit keine Arbeiter! Wo waren sie denn nur? Krank? Im Urlaub?

Und warum sind fast nie andere Kinder auf dem Spielplatz? Bei der Vielzahl an Hochhäusern in der Umgebung?

Zara meint, es sei bei Kurden nicht üblich, auf Spielplätze zu gehen: die hätten anderes zu tun. – Ich hätte auch anderes zu tun, aber die Kinder wollen doch spielen! – Nein, die müssten zu Hause mithelfen oder auf den Hof gehen.

Wegen der fehlenden Arbeiter erfuhr ich, dass heute auch keine Busse fahren würden: Der öffentliche Dienst streike einen Tag lang, aus Solidarität mit den Opfern der Polizeigewalt und den im Gefängnis sitzenden Demonstranten. So schätze ich die Gartenarbeiter noch mehr!

Die Forderungen der Protestbewegung erscheinen mir als völlig gerechtfertigt: Stopp der brutalen Polizei-Gewalt; Freilassung der 2000 willkürlich verhafteten Demonstranten; Transparenz und demokratische Kontrolle bei der Gestaltung öffentlicher Anlagen; dazu einen Runden Tisch für den Gezi-Park; weitere Forderungen zur Gewährleistung selbstverständlicher Bürgerrechte. Besonders beeindruckt mich, wie solidarisch so viele Menschen diese Forderungen friedlich, aber nachdrücklich unterstützen.¹) Der Ministerpräsident ist verreist, der Vize und der Staatspräsident bemühen sich um Deeskalation und kündigen Gespräche an. Welche Chance für einen demokratischen Durchbruch!

Wir fahren viel herum, sobald unsere Frauen mal ausgehfertig sind. Heute zum Zoo, viel grosszügiger als in Frankfurt: ein Fussballfeld neben dem anderen sind die Parkplätze für Busse und Autos (keine Bahnlinie führt zum Zoo). Doch fast alle Plätze waren leer, und das an einem Samstag! Auch im Zoo fanden sich fast mehr Wärter als Besucher. Die Leute würden jetzt zur Demo gehen, meinte Zara.

Wir dagegen halten uns von den zentralen Demos fern. Dort kann es passieren, dass man, zur falschen Zeit am falschen Ort, mit Tränengas beschossen wird, auch wenn man in Innenräume flüchtet, und sie schiessen ohne Rücksicht auf kleine Kinder. Schwere Verletzungen und Todesfälle werden in Kauf genommen.²)

Izmir ist viel, viel erträglicher als Istanbul. Kein Gedrängel bei den Bazaren, kein Verkehrschaos, keine überfüllten Busse. Fahrräder gibt’s hier keine, auch Dila verschmäht dieses Gefährt: zu anstrengend, wegen der Berge! Busse und Dolmusse keuchen im ersten Gang beim Bergauffahren – es ist eine ständige Berg- und Talfahrt.

Sehr erfreulich sind die ruhig gleitenden, diskret piependen Elektroroller – im insoweit rückständigen Deutschland habe ich noch nie Elektroroller gesehen, und hier kommt bereits jeder dritte Roller ohne Gestänker und Getöse daher.

Dennoch gibt es hier schlechte Luft – vor allem Dieselrussfahnen – , aber nur in den Niederungen, und bei weitem nicht so übel wie in Istanbul; unser Hochhaus liegt ziemlich hoch auf einem Berg, es geht ein steter frischer Wind. Fast kann man sagen, Izmir sei eine europäische Stadt – wenn es nur Schienenverkehr gäbe! Es sind gerade mal zwei, drei S-Bahn-Linien – für dreieinhalb Millionen Einwohner! – genauso schlecht wie in Istanbul.

Gestern fuhren wir mit dem Auto zu einem berühmten Park, der im Jahr 2020 die EXPO beherbergen solle – nun, ich meine, wer das hier besonders findet, hat zum Beispiel das Gelände in Rom noch nicht gesehen. Wir verbrachten die meiste Zeit auf einem Spielplatz – die Spielplätze sind fast immer gleich: Plastikgerüst, Plastikrutsche, Plastikschaukeln – mir ist es jedesmal ein Graus, wenn das Baby auf der Schaukel an den ausgelutschten Plastik-Haltestange nuckelt. Hat denn die hygienebewusste Zelal kein Desinfektions-Spray dabei? Sie lacht nur.

Alina findet die plastikbunten Spielplätze toll, sie will immer alle Geräte ausprobieren, auch wenn sie alle gleich sind, bis auf die Farbe: die grüne Schaukel, die rote Schaukel, die gelbe Schaukel usw.

Ich selber hatte schon jede Hoffnung auf kulturellen Genuss aufgegeben: In Izmir gibt es nichts, dachte ich angesichts der tristen Architektur – und wurde überrascht: Als wir den Möchtegern-EXPO-Park verliessen, bemerkte ich ein Schild mit einem Bild vor einem Mehrzweckbetonhallenbau: eine Ausstellung! Doch die Glastüren waren dunkel und vergittert, meine Vorfreude erlosch. Aber Zara rüttelte an einer Tür, und sie öffnete sich.

Siehe da: Eine Ausstellung moderner Kunst, hurra! Aber wir hatten keine Zeit! Es war schon kurz vor sechs, und man hörte schon kleine Gruppen skandieren – auf dem Weg zu zentralen Versammlungsstätten; bald wäre wieder kein Durchkommen durch die Stadt, von den Gefahren abgesehen. Schon vorgestern konnten wir nicht mehr nach Hause fahren, weil die Innenstadt gesperrt war, auf dem Umweg hatten wir eine Stunde auf die Fähre warten müssen, die überfüllt war.

Wir entschieden uns, uns wenigsten zehn Minuten für die Ausstellung zu gönnen.

Wie ein ausgehungerter Hund, den man aufs Fressen loslässt, verschlang ich ein Bild nach dem anderen, merkte aber, dass ich nichts aufnehmen konnte; verzweifelt nahm ich mir einzelne Bilder vor, starrte sie an, dachte dabei an die vielen anderen, für die ich nicht so viel Zeit hätte, und wieder ging mir der Genuss verloren. Da informierte mich Zara: Das seien alles Gemälde von Kindern – „Ausnahmetalente“, nicht älter als zehn Jahre. Und mir war nichts aufgefallen!

Jetzt nahm ich Alina auf den Arm: Welche Bilder findest du schön? Mit Alina zusammen wurde es ein Genuss: Wir zeigten uns die „schönen Bilder“, und in gemeinsamer Betrachtung fand ich meine Sinne wieder.

Allzu bald mussten wir aufbrechen, auf den Nachhauseweg: wir fanden zum Glück Lücken in den Aufmärschen, durch die wir mit unserem Auto durchschlüpfen konnten; Dila schaltete die Warnblinkanlage ein, was Solidarität bedeuten sollte, so dass unser Wagen unbehelligt blieb.

Unsere Sympathie war keineswegs geheuchelt – ich habe Hochachtung vor dieser Demonstrationskultur, die friedlich ist, aber auch nachdrücklich und unerschrocken, trotz der willkürlich aggressiven Polizeigewalt. Vor allem fasziniert mich diese Breite der Bewegung, die Demos sind einfach überall in der Stadt – man spürt, dass das Volk ein Souverän ist, der dem Staat seine Grenzen zeigt. So etwas habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Tagsüber gehen Arbeit und Geschäfte regulär vonstatten, am Feierabend wird demonstriert.

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¹) vgl. Hintergrund-Bericht in der Frankfurter Rundschau

²) „Die türkische Polizei war im Juni brutal gegen Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park und dem benachbarten Taksim-Platz vorgegangen, die gegen die Regierung protestierten. Seitdem kommt es immer wieder zu Gewalt gegen Aktivisten. Laut türkischer Ärztevereinigung gab es vier Tote und 7500 Verletzte.“ Vgl. FR vom 17. 7. 2013

(Fotos: © Robert Straßheim)

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /5

→  Sommerliche Reisegrüsse aus der Türkei /1

→  s. a. “Urlaubsbrief aus der Türkei”

 

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