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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

55. Biennale Arte Venedig 2013 (5)

Der deutsche Pavillon – im französischen Haus (2)
Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh

Von Erhard Metz

Begehrtes Ziel: Wo Frankreich draufsteht, ist Deutschland drin, die geduldig Wartenden grüsst Ai Weiwei’s Installation „Bang“ bereits durch die Eingangstür

Ai Weiwei, Bang, 2010-2013, 886 antike Hocker, 11 x 12 x 6,7 m, diverse Installationansichten, Courtesy der Künstler und neugerriemschneider, Berlin

Wir stellen die vier für den Beitrag Deutschlands ausgewählten Künstler vor und beginnen mit Ai Weiwei. Entgegen unseren sonstigen Gepflogenheiten greifen wir dieses Mal auszugsweise auf Texte von Susanne Gaensheimer zurück, wie sie Gegenstand der Pressemappe des deutschen Beitrags zur Biennale sind (Vorwort der Kuratorin, aus: Susanne Gaensheimer (Hg.): La Biennale di Venezia 2013. Deutscher Pavillon. Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng, Dayanita Singh. Berlin: Gestalten Verlag, 2013).

„Nach seiner Rückkehr aus den USA (wo er sich von 1981 bis 1993 aufgehalten hatte) nach Peking begann Ai Weiwei, sich mit den künstlerischen und kulturellen Traditionen seines Landes zu befassen – eine Beschäftigung, die bis dahin seit der Kulturrevolution unmöglich gewesen war. Er fing an, Antiquitäten zu studieren, zu sammeln und schliesslich in seine in der Zwischenzeit stark konzeptionell gewordene Arbeit zu integrieren. Dabei reflektierte Ai Weiwei nicht nur die Mechanismen des internationalen Kunst- und Antiquitätenmarkts und den damit verbundenen Ausverkauf kultureller Werte und historischen Wissens, sondern auch den Zusammenprall alter und neuer Wertvorstellungen in der sich rasant modernisierenden chinesischen Gesellschaft.

Für seine Installation für den deutschen Auftritt im Französischen Pavillon hat Ai Weiwei in allen Teilen Chinas 886 dreibeinige Holzhocker zusammengetragen. Der dreibeinige Hocker ist heute in China eine Antiquität. Nach einer einheitlichen Methode gefertigt, wurde er über Jahrhunderte aus allen Teilen Chinas und in allen Bereichen der Gesellschaft verwendet. Jede Familie hatte mindestens einen Hocker, der für alle möglichen häuslichen Zwecke benutzt und über Generationen vererbt wurde. Doch seit der Kulturrevolution ab 1966 und im Zuge der Modernisierung des Landes wurde er immer seltener hergestellt. Aluminium und Plastik haben Holz als Herstellungsmaterial ersetzt. Aus 886 Exemplaren dieses stereotypen und zugleich hochindividuellen Hockers hat Ai Weiwei mithilfe der inzwischen rar gewordenen Fertigkeiten traditioneller Handwerker eine rhizomatisch raumgreifende Struktur geschaffen, die in ihrem wilden Wachstum an die wuchernden Organismen der Megacitys dieser Welt erinnert. Der einzelne Hocker als Teil einer umfassenden skulpturalen Struktur kann als Metapher für das Individuum und sein Verhältnis zu einem übergeordneten, überbordenden System in einer sich explosionsartig entwickelnden postmodernen Welt gelesen werden.“

Holz – ein gewachsenes, lebendiges Material. In einer gewissen Weise „lebt“ es noch sehr viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte nach Fällung des Baumes, es reagiert auf Hitze, Kälte und Nässe, dehnt sich, schrumpft oder reisst. Ein wunderbarer, immer wieder herausfordernder Werkstoff für die Bildhauerkunst! Und ein Werkstoff für Möbel, wie sehr schätzen wir alte Tische und Stühle oder Kommoden und Schränke! Welche Aura umgibt sie!

Wie viele Möbel, so sind auch die alten chinesischen Dreibein-Hocker dank traditioneller Schreinerfertigkeiten ohne metallene Materialien wie etwa eiserne Nägel, Schrauben oder Klammern vollkommen stand- und gebrauchssicher gefertig. Die Beine sind in der Sitzplatte eingelassen und durch verzapfte Mittelstege miteinander verbunden – eine grundsolide und zugleich überraschend einfache Konstruktion. Das dabei entstehende Dreieck kann verschieden gestaltet sein und individualisiert den Hocker in seiner im Grundsatz standardisierten Form.

Auch die Installation „Bang“ beruht auf dieser Handwerkstechnik: Die Hocker sind durch zusätzliche Hölzer, soweit ersichtlich wiederum ohne metallene Hilfsmittel, miteinander verbunden. Die 886 Hocker bilden auf diese Weise eine riesige, in sich tragende Skulptur. Wie wir annehmen aus Sicherheitsgründen – die Skulptur ist durch wegeähnliche Durchlässe für die Betrachter begehbar – sind die obersten Elemente allerdings mit von der Decke herabhängenden Seilen stabilisiert. Ein zweites „Template“ (auf der documenta 12 stürzte Ai Weiweis rund acht Meter hoher Turm aus hölzernen Türen und Fenstern – allerdings unter freiem Himmel –  bekanntlich im Sturm ein) durfte nicht riskiert werden.

Einem wuchernden Zellwachstum ähnlich expandiert die Skulptur in die Höhe und breitet sich über den Boden nach allen Seiten bis in kleine Grüppchen von Hockern aus. Der Titel der Arbeit „Bang“ lässt an den „Big Bang“, den „Urknall“ denken, aus dem heraus nach heutigem Stand der Wissenschaft das Universum in all seinen Erscheinungsformen, wie unter vielem auch des belebten Planeten Erde, entstanden sein soll. Ja, steht man unter diesem kleinen Gebirge aus Schemeln und blickt man, der Konstruktion vertrauend, nach oben, so öffnet sich schon ein kleines Universum, und in einem von anderen Betrachtern ungestörten Moment scheint das alles, was uns umgibt, eine Dynamik der eigenen Art zu gewinnen. Und wenn man lange genug hinschaut, scheint sich diese Dynamik – wenn auch nur für Momente – tatsächlich zu visualisieren.

Nicht ein einziger Hocker steht für sich allein, alle 886 Schemel sind miteinander verbunden und bilden ein expandieren zu scheinendes Ganzes. Die vielen Einzelnen konstituieren das Alles, das Alles wäre ohne die vielen Einzelnen nicht denkbar.

Symbol, Metaphorik sicher auch für eine aus Individuen gebildete Gesellschaft, wobei die Betonung auf Individuen liegt. Intelligente Kritik an einem politischen wie gesellschaftlichen System, das die konstruktive, ja konstituierende Bedeutung der zu kritischer Mitwirkung kompetenten Individuen für das gesellschaftliche Ganze in machtpolitischer und herrschaftsorientierter Borniertheit nicht begreifen kann oder will.

„Bang“ ist aus unserer Sicht vielleicht die wichtigste Arbeit dieser Biennale.

Fotos: Erhard Metz

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (6)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (4)

→ 55. Biennale Arte Venedig 2013 (1)

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