home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Landschaft mit entfernten Verwandten“ von Heiner Goebbels: Erstaufführung der Frankfurter Fassung an der Oper Frankfurt

Mobilisierung aller Sinne

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus und Renate Feyerbacher

David Bennent (Schauspieler; von der Bildmitte aus nach hinten laufend) und Mitglieder des Ensemble Modern; Foto: © Monika Rittershaus

Es gibt keine Geschichte, die erzählt werden kann. Die Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ von Heiner Goebbels hat keine lineare Handlung, sondern gesprochene und gesungene Texte von berühmten Schriftstellern. Die meisten stammen von der US-amerikanischen Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein (1874 bis 1946), die mit 29 Jahren nach Paris übersiedelte und dort einen Salon gründete. Hier trafen sich grosse Persönlichkeiten der Zeit. steins Texte sind modern und experimentell. Die Geschichte, die sich immer wiederholt, beschäftigt sie wie die anderen Autoren. Niemand will aus ihr lernen.

Da heisst es im 2.Akt mit dem Bild „Well Anyway“: „Nun jedenfalls das neunzehnte Jahrhundert weinte gern meinte gern ass gern strebte gern nach Evolution und hatte gern Krieg, Krieg und Frieden und Krieg und weiter nichts“ (aus Gertrude Stein: Wars /Have seen). Da sitzen die Frauen des Ensembles Modern in Rokoko-Kostümen und spielen ihre Instrumente.

Der 2. Akt ist dem Thema Krieg fast ganz gewidmet. Er beginnt mit dem „Triumphal March“, einer Phalanx von Trommlern, die Coriolan erwarten. Schauspieler David Bennent zählt im Text von Thomas S. Eliot die Waffen auf: „5.800.000 Gewehre und Karabiner, 102.000 Maschinengewehre, 28.000 Minenhelfer usw.“

Im Vordergrund David Bennent (Schauspieler) und im Hintergrund Mitglieder des Ensemble Modern; Foto: © Monika Rittershaus

Diese Worte, vertont mit der Musik beziehungsweise mit den Klängen von Heiner Goebbels, lässt es einen erschauern. So geht es mir auch beim Bild „Homme-bombe“ (Text Henri Michaux), als riesige Puppen aus Kisten hochschnellen und tanzen, weil sie den Krieg satt haben, oder beim Bild „Schlachtenbeschreibung“ (Text Leonardo da Vinci): „Die Luft sei voller Pfeile, die in verschiedenen Richtungen fliegen … und hinter den Geschossen solle ein wenig Rauch fliegen“ (Libretto /Programmheft).

Oder da werden grosse Landschaftstableaus hereingetragen, die später bombadiert werden und in Flammen aufgehen – „Krieg der Städte“.

Mitglieder des Ensemble Modern; Foto: © Monika Rittershaus

An die Gemälde alter Meister will auch der Titel der Oper erinnern, zum Beispiel an Nicolas Poussins stimmunsvolle Landschaften. Eines dieser Gemälde wird zum Bühnenbild.

Und was für eine Musik, was für Klänge hat Komponist Heiner Goebbels zu den Texten, die über Krieg, über Regeln und Ordnung der Natur nachdenken, geschaffen. Manchmal gibt es zur Entspannung Zwischenmusiken. Denn die Texte sind in englisch, französisch, italienisch, hindi, deutsch, spanisch, zwar mit Übertiteln, müssen im Kopf aber schnell verarbeitet werden. Allerdings spricht David Bennent alle Texte sehr klar und eindringlich, so dass sie auch ohne vertiefte Sprachkenntnisse nachzuvollziehen sind und durch die Musik erschlossen werden.

Wer dennoch Zeit hat, sollte früh kommen und das Libretto im Programmheft vorher studieren.

Faszinierend das Bild der „Tanzenden Derwische“ mit Musik (chinesische Bambusflöte und Ngara, ein Percussion-Instrument). Es erinnert an die rituellen Tänze der Derwische im türkischen Konya, einem Wallfahrtsort für Muslime und Sufis. Das sind Muslime, die dem asketischen Sufismus anhängen.

In einem anderen, in orange gehaltenen Tableau „Temple I“ lässt der Komponist die Musiker und den Sprecher mit einem Hammer auf sechs herunterhängende Glocken schlagen. Die Klänge, die Norbert Ommer, Klangregie, steuert, schwirren durchs Bockenheimer Depot, der zweiten Spielstätte der Oper Frankfurt.

David Bennent (Schauspieler; 2.v.l.) und Mitglieder des Ensemble Modern; Foto: © Monika Rittershaus

Heiner Goebbels (*1952), der seit 1972 in Frankfurt am Main zuhause ist, ist ein „Grenzgänger des Musiktheaters, der neue Möglichkeiten von Klang, Szene, Raum und Licht erschlossen hat“, schreibt Annette Wollenhaupt im Programmheft. Das ist eine richtige Beschreibung dieses Multitalents, bei dem man sich fragt, wann er schläft.

Denn neben dem Komponieren inszeniert er selbst, wie auch bei dieser Erstaufführung der Frankfurter Fassung von 2010, die Uraufführung fand 2002 in Genf statt. Er ist für zwei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, Mitglied in mehreren Akademien der Künste, Präsident der Theaterakademie in Hessen, und er gibt sein Wissen und Können am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften an der Justus Liebig Universiät Gießen an Studentinnen und Studenten weiter. Die zahlreichen Auszeichnungen, die er erhielt, sprengen den Rahmen der Aufzählung.

Ich selbst habe wohl keines seiner Werke in Frankfurt verpasst: zum Beispiel sein „Schwarz auf Weiss“ (1996), das „Eislermaterial“ (1998) mit dem Ensemble Modern und der Stimme Josef Bierbichlers, das Szenische Konzert in drei Bildern „I went to the house but did not enter“ (2008) mit den Sängern des Hilliard Ensembles. Eine Produktion, die in ganz Europa und den USA unterwegs war. Bühne und Licht gestaltete Klaus Grünberg und die Kostüme Florence von Gerkan, mit denen Heiner Goebbels schon lange zusammenarbeitet. Beide sind auch jetzt wieder in der Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ dabei. Ihre Einfälle, ihre Realisation sind auch in diesem Werk unerschöpflich.

Last not least die Musiker beziehungsweise die Darsteller – allen voran das Ensemble Modern, das 1980 gegründet wurde und seit 1985 in Frankfurt beheimatet ist. Es ist führend, weltweit einzigartig, eigenwillig, ideenreich in seiner Interpretation neuer Musik.

In Goebbels Oper sind sie nicht nur als Musiker gefordert, sondern auch als Akteure. Und das machen sie wie ihre Musik vorzüglich unter der Leitung des französischen Dirigenten Franck Ollu, einem Experten zeitgenössischer Musik. Er arbeitet schon lange mit dem Ensemble Modern zusammen.

David Bennent, der als Kind durch Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ (1979) berühmt wurde – der Film erhielt 1979 die Goldene Palme in Cannes, 1980 in Hollywood den Oscar und wurde als bester deutscher Film ausgezeichnet – ist in der Oper der Darsteller.

Der in Lausanne geborene Schauspieler hat sich auf die seinerzeitige Rolle des kleinwüchsigen Oskar Matzerath später jedoch nie festlegen lassen. Im Interview mit der Westdeutschen Zeitung (18. Mai 2010) erinnert er sich: „Damals lagen mir zwar alle zu Füssen und haben gesagt, ohne mich wäre der Film nicht so ein Erfolg geworden. Aber von dem ganzen Rummel habe ich als Kind gar nichts mitbekommen“.

David Bennent; Foto: © Renate Feyerbacher

Er hat an der Comédie-Française in Paris gespielt, an allen bedeutenden deutschsprachigen Theatern, mit den Regisseuren Peter Brook, Patrice Chéreau, Klaus Micheal Grüber, Robert Wilson, Hans Neuenfels, George Tabori gearbeitet. Viel agiert er am Berliner Renaissance-Theater. Ich sah ihn mit seinem Vater Heinz Bennent in Samuel Becketts „Endspiel“, das auf Europa-Tournee ging.

Neben Mads Mikkelsen und Bruno Ganz hat er eine Rolle in dem neuen deutsch-französischen Spielfilm „Michael Kohlhaas (2013). Was ich bisher von dem Film sah, war toll.

David Bennent ist ein wunderbarer Schauspieler, der die Operntexte eindringlich, deutlich, klar, manchmal fast zelebrierend spricht. Die Sprache bedeutet ihm viel.

Nur kurz, aber intensiv ist der Gesang von Bariton Holger Falk, der viel mit jungen, musikalisch-zeitgenössisch spielenden Ensembles zusammenwirkt.

Fazit: ein Bühnenwerk, das alle Sinne mobilisiert. Ein kreativer Wurf sondergleichen. Eine Teamarbeit, eine Koproduktion von mehreren Bühnen (unter anderem Grand Théatre de Genève und Berliner Festspiele), ein Auftragswerk der Europäischen Festivalvereinigung, das zweidreiviertel Stunden in Atem hält. Grosser Jubel.

Weitere Aufführungen: am 5. Mai (18 Uhr), am 6., 8. und 9. Mai 2013, dann jeweils um 20 Uhr, im Bockenheimer Depot.

 

Comments are closed.