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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Ulrich Pflaum: Vertigo

Von Brigitta Amalia Gonser
Kunstwissenschaftlerin

Schwindelerregend wirkt der Farb- und Formenrausch seiner Malerei auf den Betrachter.

„Kunst muss unter die Haut gehen“, lautet Ulrich Pflaums Devise.

Dazu bedient er ein breites künstlerisches Spektrum von Figuration bis Abstraktion, wobei er seinen Stil als drastischen Realismus bezeichnet.

Ulrich Pflaum arbeitet zyklisch an diversen Reihen thematisch zusammenhängender Werke. Jeder Ausstellungsraum wird so zu einem ganz eigenen Universum.

Seine Bilder irritieren den Wahrnehmungsprozess und sind fremdartige, geheimnisvolle und stets faszinierende Illusionen.

Die wunderbare Welt des Scheiterns, 2012, Acryl auf Leinwand, 214 x 120 cm

Sie generieren Vertigo oder Schwindel, im medizinischen Sinne definiert als wahrgenommene Scheinbewegung zwischen sich und der Umwelt.

Vertigo steht im Œuvre von Ulrich Pflaum also für: Schwindel und Entschleierung und erzeugt jene spezifische Sogwirkung im Fluss der Bilder.

Offenbar wird dies im blauen Raum: Der Betrachter soll quasi in das energetische Fluidum der Farbe Blau eintauchen, aus der einzelne komplementäre Farbinseln hervorleuchten.

Doch Blau ist nicht gleich Blau. Reines Ultramarinblau ist ein kräftig blau leuchtendes Pigment mit einem leichten Rotstich. Es gibt aber ganz unterschiedliche Sorten von Ultramarinblau, manche erscheinen heller oder dunkler, andere wiederum gehen mehr in Richtung Grün oder Rot, Altrosa oder Violett.

Für den Künstler also ein riesiges Wagnis: „Blau ist die Königsdisziplin der Lichtwellenbrechung. Das Monochrome ist sein Naturzustand. Der Maler Yves Klein hat darauf reagiert, indem er ein Ultramarin, das IKB, zur Prämisse seiner Kunst gemacht hat.“ 1)

Die Farbe des Himmels und des Meeres steht für Entgrenzung. Blau ist aber auch die Farbe der Mystik und steht auch für Melancholie, für „feeling blue“ und „being blue“ – so Bert Rebhandl.

Aber Ulrich Pflaum bezieht sich weder auf Yves Klein noch auf das romantische Symbol der blauen Blume, wenn auch 38 Prozent der Deutschen Blau als ihre Lieblingsfarbe nennen und Farbpsychologen dem Blau die Qualitäten Treue, Sicherheit, Konservatismus und Ruhe zusprechen.

Ulrich Pflaums Farbe Blau ist erregt und dramatisch. Sie erzeugt in den grossen Arbeiten des Zyklus „Midnight Blue“ ganz neue ikonographische Assoziationen.

Midnight Blue I, 2012, Mischtechnik auf Leinwand, 150 x 200 cm

Nachtschicht, Fron im Akkord, Blaumann und Mundschutz bei giftigen Dämpfen mit freiem Oberkörper wegen der Hitze: die Uniform derer, die mit den Händen arbeiten, in toxischer Umgebung voller aggressiver blauer Textilfarbströme für Blue Jeans, in chinesischer Billigproduktion hergestellt für den globalisierten Weltmarkt.

Midnight Blue II, 2012, Mischtechnik auf Leinwand, 150 x 200 cm

Vertigo und Erschlaffung danach, in den blauen Ruhe- oder Traumphasen schwankt die Zelle und die Welt dreht sich weiter.

Midnight Blue III, 2012, Mischtechnik auf Leinwand, 150 x 200 cm

Dann ein vom dunklen Tiefblau erdrücktes Sich-Aufbäumen – ein verhinderter Luftsprung.

Midnight Blue IV, 2012, Mischtechnik auf Leinwand, 150 x 200 cm (vor der Arbeit: der Künstler)

Und es bleibt ein farbenprächtiges menschenleeres Weltall mit zwei Luftschiffen.

So treffen in diesem blauen Raum seelische Spannungszustände auf geheimnisvolle, von Menschen beseelte oder verlassene Orte der kleineren blauen Bilderfolge: Frachtschiff, Marktstände, Strasse mit Knieprothese, Biwak.

Entladung, 2012, Acryl auf Leinwand, 100 x 150 cm

Das Blau erfährt bei Ulrich Pflaum einen Transformationsvorgang, der die Transzendierung dieser Farbe bewirkt und ihre Magie erklärt.

Anders im 13-teiligen simultanen Panorama-Zyklus „Never Ending“ oben im Mainturm.

Never ending, 2006, 13-teilig (im Foto ohne Einöde), Acryl auf Papier, je 125 x 125 cm

Da entdeckt Pflaum die den Chaos- und Zerstörungsszenarien innewohnende Energie sowie das Malerische der Wracks auf Autofriedhöfen und Schrotthalden, wobei er die Eigenheit der Fundstücke wahrt, was uns an die Assemblagen aus Objets trouvés des Nouveau Réalisme, an César, oder an die Metallplastiken aus zusammengeschweissten Autoteilen von John Chamberlain erinnert.

Auf die durch den Terroranschlag vom 11. September 2001 zerstörten Twin Towers, als Symbole des Welthandelszentrums, folgt eine ganze Lawine von Recycling-Material, wie von einer Naturkatastrophe angeschwemmte materielle Reste der realen Welt und dazu keine Lösung, aber ein Ausklang in einem kontrastierenden Kontrapunkt: eine Einöde, oder eher ein Elysium? Angeregt von einer bretonischen Meereslandschaft im Nebel.

Reizvoll findet Pflaum auch die Spannungen im zwischenmenschlichen Bereich und die Machtsymbole der Erotik, die er in einzelnen Acrylbildern auf Leinwand einfängt, wobei die Frau die Reaktionen des Mannes forciert in „Anleitung zum Glücklichsein“, ihn verführt wie in „Pandora“, oder in „Bildstörung“ Anlass für seine Melancholie ist.

Anleitung zum Glücklichsein, 2009, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm

Pandora, 2008, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm

Bildstörung, 2009, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm.

Emotional wird es dann in der homosexuellen „Love Parade“.

Love Parade, 2008, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm

In dem 5-teiligen Zyklus „Vita Quell“, in Acryl auf Papier, auf der Brücke zum Turm, gibt Ulrich Pflaum seiner Vorstellung von weiblicher Schönheit Form, indem er sich dem Begriff „La Beauté“ stellt, und frustriert dabei den Betrachter, weil er ihm den voyeuristischen Kitzel verweigert.

Vitaquell I, 2007, Acryl auf Papier, kaschiert, 70 x 90 cm

Dabei ist für ihn Form geben das Gegenteil von Form machen.

Vitaquell II, 2007, Acryl auf Papier, kaschiert, 70 x 90 cm

Schönheit heisst für ihn, mit dem Gehirn aktiv zu sein. Schönheit existiert für ihn nur als Bewegung und Bejahung, als Behauptung und Aktivität.

Für den französischen Philosophen Gilles Deleuze führt Variation im Film zu einer Dramatisierung von Bildern.2)

Variation braucht einen Sinn, eine Richtung, ein ins Bild umgesetztes Denken. Im Unterschied zur chronologischen Zeit, deren Bewegung durch die Aufeinanderfolge geregelt wird, ist die Variation nämlich im Sinne Platons „ein Werden im Gegensatz zum Sein“. Ulrich Pflaum ist ein Meister der Variation.

Als philosophierender Künstler realisiert er die Beziehung zwischen Bildern und dem Denken. So bringt er das Drama, die Allegorie ans Licht, die es in jedem Bild gibt.

Ulrich Pflaum bildet räumliche Ebenen und Plateaus, die sich überschneiden, und beschränkt sich nicht auf die sukzessive, zielgerichtete Narration von Ereignissen.

In seinen Bildern gibt es, wie im Film, durch die Montage oder durch die Nebeneinanderstellung von Nachbarschaften eine Politik des Denkens. So schafft er unregelmässige Bewegungs-Bilder und offenbart die geheimen Zwänge des Kunstwerks.

Und weil er stets neue Experimente wagt, entstanden für diese Ausstellung in der Technik der Hinterglasmalerei die Arbeiten in leuchtenden und transparenten Druckfarben auf Plexiglas „Bluefield“ und „Brownfield“ sowie die vielen Folienbilder. Deren abstrahierte Strukturen, die er mit selektivem Blick in Müllhalden entdeckt, auf Farbfotos beruhen.

Brownfield, 2012, Druckfarben auf Plexiglas, 130 x 95 cm

Für die Fotos benötigt er starke Helligkeit, um die extremen Schatten und Kontraste der Materialstrukturen zu erzielen. Die Fotos werden dann im Offsetfarbdruck auf die Folien gebracht, welche er anschliessend auf der Rückseite zusätzlich mit Druckfarben bemalt.

Es können sich auch mehrere Folien puzzleartig zu einem Gesamtbild fügen.

Einen sehr intimen und poetischen Exkurs bilden zum Abschluss seine kleinen Sepia-Landschaften „Tien-Schan (Kyrgyzstan)“ und die Miniaturen.

Ulrich Pflaum absolvierte die Frankfurter Staatliche Hochschule für Bildende Künste, Städelschule, zur Zeit von Prof. Raimer Jochims. Und schloss daran ein kunstpädagogisches Studium an. Er arbeitete danach als Bühnenbildner, Grafik-Designer, Plakatgestalter und Kunsterzieher.

Er gestaltete Kunst im öffentlichen Raum, vor allem Wandmalereien, und machte politische Aktionskunst in der Form politischer Plakate.

Häufig wählte er für seine grossen Ausstellungen aussergewöhnliche Locations: Werften, Fabrikanlagen, Hallen, Diskotheken.

1948 geboren in Gamburg/Tauber, lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Ulrich Pflaum ist im Sinne von Gilles Deleuze ein Schöpfer, also „nicht jemand, der zum Vergnügen arbeitet. Ein Schöpfer macht nur das, wessen er absolut bedarf“. ³)

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1) Vgl. Bert Rebhandl, Blau. Entgrenzung, Mystik und Melancholie, in: Magazin des Museums Moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien, Mumok, Nr. 04, März-Juni 2007, mumok insights S. 2

2) Vgl. Jean-Clet Martin, Zur Dramatisierung von Bildern, in: Deleuze und die Künste, hrg. v. Peter Gente und Peter Weibel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2007, S. 54 ff

3) Gilles Deleuze, „Conférence, 17/05/1987: Qu’est-ce que la création?“

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Ulrich Pflaum „Vertigo“, Kunstforum Mainturm Flörsheim, bis 20. Januar 2013, samstags, sonn- und feiertags und donnerstags nachmittags.

Am 6. Dezember 2012 und am 10. Januar 2013, jeweils 18 Uhr, finden im Kunstforum Mainturm Werkstattgespräche mit dem Künstler statt.

Fotografien; © Ulrich Pflaum

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