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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Im Wettlauf mit der Zeit (2)

Der Beschleunigung auf der Spur

Von Hans-Bernd Heier

Das Museum für Kommunikation Frankfurt ist dem Phänomen Beschleunigung auf der Spur (s. Folge 1).

Intercity-Züge werden zu rollenden Büros

Nicht nur die Transportzeiten schrumpfen stetig, auch die Transportkapazitäten der Verkehrsmittel wachsen rasant. Reisen und Urlaub werden immer preiswerter. Mit den neuen Verkehrstechniken können Menschen in immer kürzerer Zeit immer weiter entfernte Reiseziele erreichen. Für den Ausgleich zur Arbeit wird die Freizeitgestaltung immer wichtiger. Es entwickelt sich ein moderner Massentourismus, bei dem nicht mehr der Weg das Ziel ist, sondern es darum geht, den Weg möglichst schnell und bequem hinter sich zu lassen.

„Zeit sparen. Fernschreiber und Fernschnellzüge benützen“, 1961, Plakat von Herbert W. Kapitzki; © Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Um Reisende von Fremdenführern unabhängig zu machen, entwickelt Karl Baedecker 1835 seine Reiseführer, die ab 1846 mit Sternchen für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten versehen sind. Mit der Entwicklung der Fotografie und den fotografischen Apparaten wird eine individuelle Fixierung erinnerungswerter Augenblicke für eine zunehmende Zahl von Menschen möglich. Doch statt Urlaub und Freizeit mit Musse zu geniessen, bringen diese für viele „Freizeitstress“ mit sich – ein Widerspruch in sich.

Viele kleine Helfer sollen die Alltagsarbeit erleichtern und vor allem beschleunigen, Ausstellungsansicht; Foto: Hans-Bernd Heier

Mit neuen touristischen Reisen und zunehmender Arbeitsmobilität geht auch die Herstellung spezifischer Reiseartikel einher. Sie reicht vom leichten, handlichen Koffer über die Reiseschreibmaschine bis zum Notebook unserer Tage. In den modernen Zügen ermöglichen Stromanschluss und WLan auch bei Tempo 300 die Nutzung von Laptop und Internet – so werden die Intercity-Grossraumwagen zu rollenden Büros. Der schlimmste Feind der Moderne scheint die Langsamkeit zu sein.

Immer mehr Menschen reisen in immer kürzerer Zeit immer weiter

Die zunehmende Trennung von Arbeits- und Wohnort zwingt eine steigende Anzahl von Menschen dazu, immer grössere Distanzen zu überwinden. Tägliches Pendeln zur Arbeit ist heute für rund 15 Millionen Bundesbürger Normalität. Doch auch unterwegs lässt sich die Zeit optimal nutzen. Bei der „sinnvollen“ Nutzung der Fahrt zur Arbeitsstelle zeigen sich etliche Autofahrer/innen besonders erfinderisch. Bei der morgendlichen Anfahrt auf der Autobahn haben sie bei stockendem Verkehr nicht nur eine Zeitung auf dem Lenkrad ausgebreitet und lesen oder frühstücken noch schnell und trinken Kaffee. Beim Stillstand nehmen einige noch eine kleine Wagenreinigung vor: leeren den Aschenbecher oder klopfen die Fußmatten aus. Autofahrerinnen tuschen sich noch rasch die Wimpern, lackieren die Fingernägel oder legen frischen Lippen-Gloss auf – natürlich begleitet von Radiomusik und /oder einem Telefonat über die Freisprechanlage des Handys. Auch das ist eine Art Multitasking – allerdings nicht in der unbedingt nachahmenswerten Art.

Fahrer beim Telefonieren mit einem A-Netz Autotelefon; H.-J. Zierold Industrie-Photo, Nürnberg, um 1957; © Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Benjamin Franklins Diktum: Zeit ist Geld

Das Diktat der Beschleunigung durchdringt immer mehr Lebensbereiche und Zeit wird zu einem essenziellen Wirtschaftsfaktor. Es regiert Benjamin Franklins Diktum: Zeit ist Geld. Spätestens mit der Industrialisierung wird Zeit zu Geld. Rationalisierung und Effizienzdenken bestimmen den Umgang mit Maschinen und Arbeitskräften. Mit der Stoppuhr wird sekundengenau festgelegt, wie lange ein Handgriff dauern darf (Taylorismus), die Arbeitszeit wird durch Stechuhren erfasst, der Lohn entsprechend berechnet.

Zweitonwecker „Bivox“, Werbung Junghans, 1950er Jahre; © Deutsches Uhrenmuseum, Furtwangen

Der Wecker wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für alle unentbehrlich, die pünktlich aufstehen müssen, um zur Arbeit zu kommen. In doppelter Weise verkörpert er die neue Zeit: Er steht für Pünktlichkeit und ist ein frühes industriell hergestelltes Massenprodukt.

Was schnell ist, ist gut.

In Büros beschleunigen Schreib- und Rechenmaschine Arbeitsprozesse. Ordner, Locher und Tacker unterstützen eine effiziente Organisation. Im Haushalt sollen Staubsauger und Schnellkochtopf sowie zahlreiche Fertigprodukte nicht nur die Arbeit erleichtern, sondern vor allem Zeit und Geld sparen.

Eine riesige Fülle von Produkten, die den vielversprechenden Zusatz „quick“ oder „fix“ tragen, belegen, wie Schnelligkeit in den letzten 100 Jahren zum Verkaufsschlager geworden ist. „To-Go-Produkte“ und Fast Food direkt beim Drive-In gekauft haben Hochkonjunktur. Bei der Jagd nach dem „Immer-schneller“ ist die Uhr der einzige Gegner. Die Menschen befinden sich im Rausch der Geschwindigkeit. Satirisch hat sich Horst Evers in dem Buch „Für Eile fehlt mir die Zeit“ damit auseinandergesetzt.

„Always on“ und stets „Stand-by“

Die Industrialisierung zwingt die Arbeiter zur Einhaltung fester Arbeitszeiten. Das erfordert zuverlässige Zeitmesser. Nahezu alle Menschen müssen sich nach dem Takt richten, den die Gesellschaft vorgibt. Ohne Wecker würden wir nicht pünktlich zur Arbeit kommen. Dem Wecker gilt wohl von vielen der erste Blick nach dem Wachwerden. Ohne Armbanduhr würden wir unseren Zug, Bus oder Strassenbahn verpassen. Bereits Kinder müssen lernen, wie die Uhr tickt. Die Uhr ist deshalb aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.

„In 10 Minuten kommt Mutti“, VEB Graphische Werkstätten Leipzig, Plakat von Rolf Rehme, 1955; © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Wirtschaftliches Effizienzdenken bemächtigt sich so immer mehr unseres Privatlebens. Die Uhr als Synchronisierungs- und Koordinierungsinstrument ist damit unentbehrlich. Der erste Wecker wird 1847 patentiert. Bereits um 1850 werden Uhren und Wecker industriell in Massenproduktion hergestellt. Zimmeruhr und Wecker halten Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in unzählige Haushalte.

Die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen

Dank Internet und Mobiltelefon können wir immer und überall auf einen scheinbar endlosen Pool von Informationen, Wissensbeständen und Waren zugreifen. Die Nachrichtenflut setzt jedoch nicht erst mit dem Internet, der radikalsten Beschleunigungstechnik, ein. Bereits mit der elektrischen Telegrafie entstehen Nachrichtenagenturen, die Informationen sammeln, aufbereiten und massenhaft verbreiten. Und dafür viel Geld berechnen. Heute sind nicht nur Informationen jederzeit abrufbar, sondern auch wir selbst stehen ständig auf „Stand-by“. Mit ständiger virtueller Verfügbarkeit und einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten erlangen wir einerseits mehr Selbstbestimmung, andererseits verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben. Die Abgrenzung wird mehr und mehr jedem Einzelnen überlassen.

Wie geht der Mensch mit dem Gefühl zunehmender Beschleunigung um? Mit Uhr und Kalender versucht er, Herr seiner Zeit zu werden. Viele Aufputsch- und Genussmittel („Brainbooster“) – vom Kaffee und Zigarettchen zwischendurch bis zum Energy-Drink – sollen dabei helfen, den Zeit- und Leistungsdruck zu reduzieren und vor allem mehr Leistung zu erbringen.

Eine Vielzahl von Produkten – vom Duschgel über den Energy-Drink bis hin zu Medikamenten – versprechen eine Steigerung der Leistungsfähigkeit. Schliesslich hat der Tag 24 Stunden, die optimal ausgenutzt werden sollen.

Zielgesteuerte Paketverteilanlage beim Postamt Braunschweig; Fotografie von Gerhard Stoletzki, 1968; © Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Mit der Industrialisierung hält die Rationalisierung zunehmend Einzug in alle Lebensbereiche. Auch im Haushalt wird Zeit zum knappen Gut. Zahlreiche Produkte wurden erfunden, um Zeit zu sparen. Diese kleinen „Zeit-Helfer“ haben unseren Alltag fast unmerklich beschleunigt. Anhand des Kugelschreibers, des Teebeutels, der Fernbedienung für Fernseher, der Schuhcreme und des Reissverschlusses. Vor der Entwicklung des Reissverschluss wird Kleidung mit Knöpfen, Bändern und Schnüren geschlossen. Die Geschichte des Reissverschlusses beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts. „Seit dem Reissverschluss gibt es keine zugeknöpften Damen mehr“ (Autor unbekannt) zeigt, wie selbstverständlich „Zeitsparer“ in unserem Alltag geworden sind.

Durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frau bleibt weniger Zeit für die Hausarbeit. Fertiggerichte und Schnellkochtopf sollen die Arbeit erleichtern sowie Zeit und Geld sparen.

Plakat „Keep in touch with your office“, um 1950; mit der zunehmenden Verbreitung des Telefons wächst auch die Erwartung, ausserhalb des Büros erreichbar zu sein; © Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Work-Life-Balance – Zauberformel für ein zufriedeneres und gesünderes Leben

Beschleunigungsprozesse werden seit jeher ebenso euphorisch begrüsst wie kritisch hinterfragt. Ähnlich wie gegenwärtig der Begriff „Burnout“ ist um 1900 die Diagnose des „nervösen Zeitalters“ in aller Munde. Die technische Beschleunigung wird dabei ebenso wie heute als eine Ursache für neu entdeckte Nervenkrankheiten ausgemacht. Zentrum des hektischen Lebensgefühls sind die Grossstädte.

Dass Stress und Hektik uns verstärkt fest im Griff haben, wird nicht erst in jüngster Zeit beklagt. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sich die „Lebensreformbewegung“ mit dem Fortschritt und seinen Folgen auseinander. Ihre Vertreter reagieren auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, indem sie Entschleunigung propagieren. Heute suchen viele Menschen bei fernöstlichen Lebensführungs- und Entspannungstechniken Erholung. Zudem verspricht die Wellness-Industrie Auszeiten vom stressigen Alltag.

Gegenwärtig drängen vermehrt Krankenkassen auf eine bessere Work-Life-Balance – die Zauberformel, die uns ein zufriedeneres und gesünderes Leben verheisst. Mehr und mehr Teile der Bevölkerung halten dem zunehmenden Zeitdruck nicht stand, fühlen sich von der technischen Entwicklung abgehängt. Nicht zuletzt stellt sich spätestens seit den 1970er Jahren die Frage nach den ökologischen Folgen des „Immer schneller und Immer mehr“.

Bildnachweis: Museum für Kommunikation, Frankfurt am Main

Die informative Schau im Museum für Kommunikation Frankfurt ist noch bis zum 24. Februar 2013 zu sehen. Zur Ausstellung ist die Begleitpublikation „Das Zeitsparbuch“, Verlag Hermann Schmidt, Mainz, erschienen.
Weitere Informationen, auch zum Begleitprogramm, unter: www.museumsstiftung.de

–  siehe Folge 1  –

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