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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

documenta 13 in Kassel (17)

Gustav Metzger: Verschwundenes

In der gestreckten, bogenförmigen Seitenlichthalle der Documenta-Halle stehen lange Reihen schräg geneigter, von beiden Seiten betrachtbarer Schauvitrinen, die einzelnen Vitrinenfelder sind jeweils mit weichen, lediglich im „Giebel“ der Vitrinen befestigten sandfarbenen Tüchern abgedeckt. Das Publikum kann (und soll) die Tücher anheben, beiseite schlagen und die darunter liegenden Zeichnungen betrachten. Wir beobachteten, dass nahezu alle Besucherinnen und Besucher die Tücher mit Sorgfalt, fast andächtig wieder glatt auf die Vitrinenverglasung auflegten.

„Too Extreme. A Selection of Drawings by Gustav Metzger Made from 1945 to 1959/60“ – so lautet der Titel dieser Präsentation. Es ist eine Auswahl aus mehreren hundert Zeichnungen auf Papier, die der Künstler im Jahr 1965 fest verpackt in London eingelagert hatte und die 2010, nach 45 Jahren also, erstmalig wieder das Tageslicht erblickten.

„Das Verschwinden ist eben ein Zeichen der Möglichkeit, dass wir nicht immer nur wachsen müssen. Das Verschwinden ist symbolhaft für das, was sein sollte. Dass man Verständnis hat für Leben ohne endloses Wachstum“ sagte Gustav Metzger, zitiert in einem Beitrag von DRadio Wissen.

(Foto: Jürgen E. Reinwald)

Too Extreme. A Selection of Drawings by Gustav Metzger Made from 1945 to 1959/60, Zeichnungen auf Papier, Courtesy der Künstler (Ausstellungsansichten)

Wir gehen davon aus, dass die Abdeckungen der ausgestellten Arbeiten in den Vitrinen neben ihrer konservatorischen Funktion – viele dieser wie schon ausgeführt 45 Jahre lang eingelagerten Arbeiten weisen bereits Beschädigungen auf – zugleich ein Symbol darstellen für das Verschwundene, über lange Zeit Verborgene, nun Wiederentdeckte oder besser gesagt das wieder und in vielem noch neu zu Entdeckende.

Gustav Metzger wurde 1926 in einer jüdischen, im Holocaust ausgelöschten Familie in Nürnberg geboren. 1939 kam er im Zuge der Kinderverschickung des „Refugee Children’s Movement“ der britischen Regierung nach England. Er arbeitete dort als Gärtner und Steinmetz, studierte an der Cambridge School of Art sowie später in London bei David Bomberg (1890 bis 1957), einem der bedeutendsten und einflussreichsten britischen Maler des 20. Jahrhunderts.

Metzger reflektierte in seinen Arbeiten die durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Verwerfungen und den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Vor dem Hintergrund seines persönlichen Schicksals und der Kriegsereignisse galt seine Aufmerksamkeit der von Zerstörung bedrohten Menschheit und Natur. Er kämpfte – wie wir heute wissen vergebens – gegen die Auswüchse des Kapitalismus und gegen Atombewaffnung. Metzger gilt als Begründer der autodestruktiven Kunst und als Wegbereiter der Young British Artists. Berühmt sind seine Acid Paintings, bei denen er mit Säuren arbeitete, die den Malgrund über kurz oder lang zerstörten. Nachdem er 1959/1960 das Malen und Zeichnen aufgegeben hatte, veröffentlichte er eine Reihe von Manifesten und organisierte künstlerische Aktionen, Demonstrationen und Konferenzen. Er nahm an zahlreichen internationalen Ausstellungen teil, darunter 1972 an der documenta 5 und 2003 an der Kunstbiennale in Venedig. Der 86jährige Künstler lebt – und er arbeitet dort bis heute – in London.

Welch ein gewaltiges Zeichen in der heutigen Kunstszene setzt die documenta 13, wenn sie neben Thomas Bayrle dem bei vielen  in Vergessenheit geratenen Gustav Metzger die zentralen Ausstellungsflächen der Documenta-Halle vorbehält! Sein über die Jahrzehnte der Öffentlichkeit nicht zugängliches zeichnerisches und malerisches Œuvre zu entdecken und zu entschlüsseln sollte heute und morgen eine vorrangige Aufgabe sein.

Steel painting, 1958/59, Ölfarbe auf unbehandelter, weicher Stahlplatte, Courtesy der Künstler

Fotos (soweit nicht anders bezeichnet): FeuilletonFrankfurt

→  documenta 13 in Kassel (1)
→  documenta 13 in Kassel (16)

→ documenta 13

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