home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Filmfestival „goEast“ 2011

Begegnungen bei „goEast“ 2011

Text und Fotografien: Renate Feyerbacher

Vom 6. bis 12. April fand in Wiesbaden zum 11. Mal das Festival des mittel-und osteuropäischen Films statt, unter dem Kürzel „goEast“ bekannt.

Zehn Spielfilme und sechs Dokumentarfilme nahmen am Wettbewerb teil. Die Spielfilme konkurrierten um „Die Goldene Lilie“, die anderen um den Dokumentarfilmpreis „Erinnerung und Zukunft“.

Die Landeshauptstadt Wiesbaden verlieh den Preis für die „Beste Regie“, das Auswärtige Amt für „künstlerische Originalität, die kulturelle Vielfalt schafft“ und die internationale Vereinigung der Filmkritiker und -journalisten ihren „Preis der internationalen Filmkritik“.

Die Robert Bosch-Stiftung schüttete ein Füllhorn mit einer Gesamtsumme bis zu 210.000 Euro für Nachwuchsprojekte aus. Dieser Förderpreis gehört zu den höchst dotierten Auszeichnungen und gilt für Koproduktionen von Nachwuchsfilmemacher aus Deutschland und den Ländern Osteuropas. Die Kategorien sind Animations-, Dokumentar- und Kurzspielfilm. Die Filmbeiträge des Hochschulwettbewerbs bewarben sich um den Publikumspreis und den Förderpreis der BHF-Bank-Stiftung.

Preisträger und Jury am 12. April 2011

Zwar ist die neue Festivalleiterin von goEast wieder eine Frau, aber in den Jurys sind Frauen nicht gleich stark vertreten. Die Robert Bosch-Stiftung hat immerhin drei Frauen in ihrer fünfköpfigen Jury-Riege: Doris Hepp, die heute bei ZDF/Arte den Sendeplatz Spätvorstellung (dahinter verbirgt sich unter anderem der kreative Dokumentarfilm) betreut, die Filmwissenschaftlerin Christine Kopf, einst Leiterin von goEast, und die Produzentin Ada Solomon aus Bukarest, Initiatorin des NexT Film Festivals. Professorin Rotraut Pape von der Hochschule für Gestaltung Offenbach gehört zur Jury des Hochschulwettbewerbs. Den Vorsitz der fünfköpfigen Hauptjury – zuständig für die Wettbewerbsbeiträge – hatte ein serbischer Regisseur. Weitere Mitglieder: ein russischer Produzent und Dokumentarfilmer, ein deutscher Filmverleiher, ein georgischer Regisseur und Journalist und die einzige Frau: die rumänische Schauspielerin Anamaria Marinca.

Anamaria Marinca

Dem deutschen Publikum wurde sie durch den Film „Sturm“ bekannt, der vor zwei Jahren auf der BERLINALE lief und unter anderem den Preis von Amnesty International gewann. In diesem Film spielt sie neben der renommierten neuseeländischen Schauspielerin Kerry Fox (Silberner Bär 2001), die grossartig ist, aber von Anamaria Marinca noch übertroffen wird.

Die sympathische junge Frau, der Starallüren fremd sind, redet mit jedem, der sie anspricht. Sie macht auf ihren neuesten Film „Look, Stranger“ aufmerksam, der in der von Festivalleiterin Gaby Babic  neu konzipierten goEast-Reihe Beyond Belonging gezeigt wurde. Die filmischen Arbeiten dieser Kategorie konzentrieren sich auf das Thema Migration und Exil. In „Look, Stranger“, einer US-amerikanischen, serbischen, slowenischen Produktion, wird die Geschichte einer Frau erzählt, die auf der Flucht ist und wieder nach Hause gelangen will. Menschenleere, sanfthügelig-karge Landschaften werden durchquert. „Die Ruhe trügt – wie so vieles in diesem vom Krieg zerrissenen Nirgendwo“ (Filmheft goEast).

In dieser neuen Filmreihe lief auch ein Preisträger-Film des letzten Jahres „Die wundersame Reise der unnützen Dinge“, eine deutsch-polnische Produktion. Kurz vor der Sperrmüllabfuhr touren polnische Transporter durch Dörfer und Gassen rund um Mainz. Piotr und Jan, die das seit 15 Jahren machen, finden immer Bauchbares, um es in Polen verkaufen zu können. So zum Beispiel ein Harmonium, das heute in einer polnischen Kirche den Gesang der Gläubigen begleitet.

Zwei russische Filme gab es im Wettbewerb: „Kochegar“ (Der Heizer) und „Sibir, Monamur“ (Sibirien, Monamour).

„Die Goldene Lilie“ und den Kritikerpreis gewann „Der Heizer“. Kein Film für zarte Gemüter. Eine Zuschauerin sprach von „Höllenbildern“. Die Jury urteilte: „… ein stilistisch kohärentes und konsistentes Werk …, das das Genre des Gangsterfilms nutzt, um ein kompromissloses Abbild des modernen Russland und seiner Geschichte zu entwerfen“.

Der pensionierte Major Ivan aus Jakutien, das nur wenige Kilometer vom Polarkreis entfernt liegt und reich an Edelsteinen und Gold ist, verdient sich seinen Lebensunterhalt als Heizer. Er haust bei seinen Öfen, um seiner an Pelzen und Männern interessierten Tochter die Wohnung zu überlassen. Seine alte Schreibmaschine hält Erinnerungen an die Volksgruppe der Jakutier zur Zarenzeit fest. In seinen Öfen werden Holz, Kohlen und Leichen verbrannt, die ihm sein ehemaliger Militärkamerad Mikhail, erfolgreicher Geschäftsmann und Auftragskiller, bringt bzw. die vor seinen Augen erschossen werden. Ungerührt und gleichgültig sieht Ivan zu. Mikhail und die andern halten ihn für einfältig. Nur eine Leiche, die im Ofen landet, lässt Ivan nicht kalt. Er trifft eine Entscheidung: mit einem Skistock nimmt er Rache.

Sibirien ist in. Sibirien spielt in mehreren Filmen, die in letzter Zeit gedreht wurden, eine Rolle. In „Khodorkowsky“, einem Dokumentarfilm über den im sibirischen Gefängnis sitzenden Oligarchen Michail Chodorkowskij, der auf der BERLINALE 2011 gezeigt wurde, gibt es einen langen Schwenk über die schneebedeckte Ebene (Tundra) hin zum Gefängnis. Und er endet mit dem Schwenk vom Gefängnis zurück. Darüber liegt die Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt, der seine 4. Sinfonie dem Inhaftierten gewidmet hat. Die filmischen Einstellungen, vor allem die erste, sagen viel aus über diese geheimnisvolle, mächtige, Furcht und Bewunderung auslösende sibirische Landschaft.

So wird es auch in dem Zweipersonen-Drama „Mein Sommer mit Sergej“ empfunden. In dem Film, der bei goEast 2010 den Preis des Auswärtigen Amtes und den der Internationalen Filmkritik erhielt, spielt die Natur der arktischen Landschaft eine Hauptrolle. Faszinierend das Spiel der rivalisierenden Männer, atemberaubend die Natur.

In dem zweiten russischen Beitrag des diesjährigen goEast-Festivals, „Sibir, Monamur“ steht die Landschaft mit ihren Menschen im Mittelpunkt.

Der 45jährige, in Sibirien geborene Regisseur Slava Ross, der auch das Drehbuch schrieb, hat zehn Jahre an diesem Film gearbeitet. Allein 130 siebenjährige Jungen hatte er zum Casting. Das filmische Equipment musste aus Moskau nach Sibirien transportiert werden.

Regisseur Slava Ross

Ein poetisches Werk, das die Schönheit, aber auch die Grausamkeit der Taiga erzählt. Es geht ums nackte Überleben. Auch dieser Film beginnt mit einem langen Schwenk über sibirische Wälder, der abrupt in eine Kampfszene zwischen Wolfshunden übergeht. Schönheit und Grausamkeit sind eng gepaart.

Es ist die Geschichte des siebenjährigen Lyoshkas, der mit seinem tiefgläubigen Grossvater mitten in der Taiga lebt. Die Mutter ist tot. Sehnsüchtig wartet der Junge auf die Rückkehr seines Vaters, der Soldat ist. Er wird nicht kommen, denn er wurde bei einer Messerstecherei getötet. Sein einziger Freund ist ein Wolfshund, der um die einsame Hütte streicht. Nur Onkel Yuri kommt hin und wieder mit dem Pferdewagen vorbei und bringt etwas zu essen. Bei einer dieser Fahrten wird er von wilden Wolfshunden zerrissen. Er hatte sein Gewehr vergessen.

Lyoshkas sieht, wie der Grossvater auf „seinen“ Hund schiesst, und läuft weg. Er stürzt in eine Sickergrube. Vergeblich versucht der Alte, ihn daraus zu retten. Er macht sich auf den Weg, um Hilfe zu holen. Es schneit ununterbrochen, und die wilden Wolfshunde verfolgen ihn. Das sind atemberaubende Bilder.

Das Geschehen um Lyoshkas, seinen Grossvater, seinen Onkel Yuri und dessen Frau und die diebischen Antiquitätenhändler ist ein Erzählstrang, ein anderer die Geschichte um den Leutnant der russischen Armee, den Soldaten und die Prostituierte. Viel Brutalität ist zu ertragen. Am Ende des Films treffen sich die beiden Gruppen.

„So karg und feindselig wie die Landschaft sind auch die Seelen der Menschen“, aber sie sind fähig, sich zu wandeln. Sie können ihre Feindseligkeit besiegen. Der Schluss des Films endet versöhnlich und hoffnungsvoll. Slava Ross erzählt „eine Geschichte von biblischer Wucht, von Gut und Böse, von einem Leben ohne Gnade und davon, was es heisst, in einer brutalen Welt Menschlichkeit und Erbarmen zu zeigen“ (goEast-Filmheft).

Einen „Kung-Fu-Film ohne Kämpfe“ nennt der ungarische Regisseur Bence Miklauzic seine Komödie „A zöld Sárkány Gyermekei“ (Kinder des Grünen Drachen).

Regisseur Bence Miklauzic (rechts) mit Produzent József Berger

Der 40jährige, in Budapest geborene Regisseur hat auch das Drehbuch geschrieben, in dem es um Rivalität und Freundschaft geht.

Hauptpersonen sind der ungarische Immobilienmakler Máté, der eine alte Lagerhalle verkaufen soll, und der Chinese Wu, der das verhindern soll. Die beiden Einsamen werden Freunde, aber die Chefs beider ziehen nicht mit. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Schliesslich wird das Grundstück verkauft, daran ist Wu sogar unfreiwillig schuld. Und seine Chefs wollen seinen Pass nicht rausrücken, und Geld hat er nicht, um sich freizukaufen.

Die Story ist nicht tiefgründig, führt aber immer wieder zu Momenten, die nachdenken lassen. Eine feine Tragikomödie.

Noch nie hatte ich etwas von dem multimedialen Künstler Jan Švankmajer gesehen, dem die diesjährige Hommage von goEast galt. Der 1934 in Prag Geborene gilt als Meister sämtlicher Animationstechniken. Bei der Eröffnung wurde sein sieben Minuten dauernder Kurzfilm „Tma – Svetlo – Tma“ (Dunkelheit – Licht – Dunkelheit) von 1989 gezeigt. Aus Knetgummi entsteht nach und nach eine menschliche Gestalt, die über ihren Entstehungsrahmen hinauswächst: „Schöpfungsgeschichte mit Licht und Schatten“. Grandios. Auf der BERLINALE vor 11 Jahren wurde der Kurzbeitrag lobend hervorgehoben. Nur eine Minute dauert „Zamilované Maso“ (Fleischesliebe), eine Liebesgeschichte von zwei Schnitzeln, die natürlich in der Pfanne endet. Surrealismus versteht Švankmajer nicht als „ästhetische Strömung“, sondern als antiautoritär rebellische „Haltung“ (Hans-Joachim Schlegel: „Die subversive Macht der Imagination“ im goEast-Filmheft).

Tradition ist, dass ein Film ausgewählt wird, der demnächst bei 3SAT zur Ausstrahlung kommt. Die Wahl fiel auf „Morgen“, eine rumänisch-französisch-ungarische Produktion.

Die Menschen dieser Parabel über Politik, Ökonomie und über Freundschaft verlangen nach einem besseren Leben. Morgen. Beim Festival in Locarno 2010 erhielt „Morgen“ einen Spezialpreis der Jury.

Alles in Allem: ein Festival, das unseren Blick gen Osten nachdrücklich fördert und schärft und dazu beiträgt, unsere östlichen Nachbarn besser zu verstehen. Der neuen Festspielleiterin Gaby Babic ist es gelungen, ein vielfältiges, interessantes, lebendiges Programm auf die Beine zu stellen.

→  goEast – 12. Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Comments are closed.