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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (21)

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (21)

Der Fall A in meiner Lieblingszehn (10BFX0)

Die Klausur von A: Ich habe entschieden, die fragwürdige Aufgabe zu bewerten, weil mein „NIL“ möglicherweise nur für die Vorderseite gemeint war, so dass ich einen Fehler meinerseits nicht ausschließen konnte. Als Konsequenz führe ich für die Zukunft ein zusätzliches Geheimzeichen ein: NILI bedeutet, dass auch auf der Rückseite nichts mehr folgt. Damit kann ich in solchen Fällen standhaft bleiben. Am besten kommt es natürlich an, wenn ich die Klausuren vor der Rückgabe photokopiere, und wenn dann ein Schüler Punkte auf Antworten haben will, die er nachgetragen hat, kann ich ihm die Kopie der Originalversion vorhalten. Im letzten Schuljahr habe ich mit dieser Methode einen Fälscher gestellt. Aber weil mir die vielen unschuldigen Blätter Leid tun, die beim Kopieren meist unnötig verbraten werden, betreibe ich diesen Aufwand nur, wenn ich den Verdacht hege, dass Betrug im Spiel ist, vor allem in der 12 in Chemie. Ich sehe das als sportliche Herausforderung.
Der A nun erhält einen Zuschlag von 1,5 Punkten; gleichzeitig führt ein schwerer Grammatikfehler in dem neu bewerteten Antwortsatz zum Abzug von einem halben Punkt; insgesamt bekommt er ein Plus an seine Fünf.
Am Freitag, den 14.3. fragt zu Beginn der Stunde A gleich nach, ich erkläre ihm meine Entscheidung, A ist zufrieden. Das dankt er mir kurz darauf, indem er mitten im Unterricht eine Tüte zerplatzen lässt; dummerweise entdecke ich ihn als Urheber des Knalls, blicke ihn böse an, beordere ihn auf einen Platz an einer leeren Bank, drohe weitere Maßnahmen an, falls er wieder stört; daraufhin A: „Soll ich mich dann wieder umsetzen?“ – „Dann erfolgt eine weitergehende Maßnahme.“ – „Welche denn?“ – „Das werden wir dann sehen.“
Das zu sagen ist wirklich grob fahrlässig, denn der Schüler will natürlich seine Neugier befriedigen: Ein paar Minuten später kippt er dem armen D, der zu schwach ist, um sich zu wehren, eine Fuhre mit Konfetti in den Nacken! – Nun schimpfe ich wieder, heiße den A sich ganz nach vorn zu setzen und ein Protokoll zu schreiben.
Worüber denn, fragt der A?
Über die Highlights dieser Stunde, sage ich, also, was du gemacht hast!
A sitzt und schreibt. Nun ist er bei der Sache. Zwischendurch fragt er, ob ich das Protokoll vorlesen würde. Ich sage, ja. Er genießt die Aufmerksamkeit. Und ich freue mich, dass es möglicherweise das erste Mal ist, dass dem A das Schreiben Spaß macht.
Am Ende zelebrieren wir das Verlesen des Stundenprotokolls: Siehe Anlage. Wir haben Spaß. Dann ist der A bereit, das Konfetti wegzufegen. Es ist aber kein Besen da. Ich weise ihn an, in der Pause eine Kehrgarnitur beim Hausmeister auszuleihen und nach der Pause sauberzumachen. A fragt, ob er im Zeugnis noch eine Vier bekommen könne? Wenn er weiter Quatsch macht, sage ich, kriegt er die Fünf, wenn er sich so bemüht wie zuletzt, eine Vier.
In der Pause erzähle ich alles dem Kollegen P, der sich ja für den A eingesetzt hatte, damit P darauf achtet, dass A ordentlich fegt. „Und jetzt ist das der Dank“, empört sich Koll. P, „ich helfe dem A, und jetzt das? Na, dem werde ich gleich die Ohren lang ziehen!“

Am Freitag Abend maile ich den Kollegen P an:

hat denn der A schön gefegt? hoffentlich hast du ihm nicht böse zugesetzt?

Antwort P:

Er hat den ganzen Saal gefegt. Und dann hat er sehr besorgt gefragt, ob ich nun immer noch beleidigt sei.

Ach, ich bin glücklich, unsere Schule funktioniert doch!

In den Osterferien geht es mir gut. Ich lasse mich verschlucken von meiner Familie und der Arbeit, sitze am Schreibtisch, korrigiere solange es eben geht, d.h. so lange ich Ruhe habe, und dazwischen bin ich mit meiner Frau, den Eltern, dem Sohn, der Schwester, dem Schwager, meinem einjährigen Neffen, immer sind da Leute zusammen, immer wieder gelingt es mir, zum Schreibtisch zurückzukehren, um meine Schulerzählung zu schreiben, wenn keine Gefahr besteht, unterbrochen zu werden, oder um Chemie-Klausuren zu korrigieren, wobei ich jederzeit gestört werden kann, weil diese Arbeit ja völlig geistlos ist, oder um die wissenschaftliche Hausarbeit meiner Frau zu redigieren, die meine Liebe ja auch einmal braucht; dazwischen haben andere Aufgaben Vorrang, mal Saugen, mal kochen helfen, mal den Neffen ausfahren oder wickeln; ganz ungestört arbeiten kann ich nur morgens vor 8 Uhr, diese Zeit gilt es zu nutzen, und mittags schlafe ich gut.
An einem Abend wollen wir einmal eine DVD gucken, einen Western mit Clint Eastwood, wir versammeln uns vor dem Fernseher, der Streifen läuft für eine Viertelstunde, dann fängt der Neffe an zu quaken, die Schwester kümmert sich, aber das Kindchen will sich nicht einschläfern lassen, die beiden kommen aus dem Schlafzimmer heraus, und wir schalten den Fernseher ab.

Nach den Ferien tausche ich mich mit den Schülern aus, was wir gemacht haben: Manchen ist es langweilig geworden trotz Videos und Spielen, und sie fragen mich dann, was ich denn für Filme gucken würde?
Ich erzähle von diesem missglückten Versuch, einen Western zu sehen. – Und später? – Nein, später haben wir ihn nicht weitergeguckt. – Und sonst? – In den Ferien nichts mehr, nicht mal Startrek; aber einmal, zu Beginn der Ferien, war ich mit meiner Frau im Kino, „Kein­ohr­hasen“ – eine deutsche Komödie, die Handlung genauso dumm wie der Titel, aber sehr lustige Dialoge; nur blieb hinterher nichts übrig von diesem Film, nichts im Kopf, nichts im Herzen. – Und was gucken Sie im Fernsehen? – Das letzte Mal, am Abend der Hessenwahl, habe ich, vor Aufregung, eine Sendung über die Wahl gesehen. Seitdem nichts mehr. Wenn ich mal Zeit habe, will ich sie genießen; bei Filmen besteht große Gefahr, dass sie schlecht sind, und der Fernseher zermantscht mir das Hirn. Also lese ich lieber!
Hier treffe ich auf dasselbe Unverständnis wie in der Parallelklasse, der 10 X1: Die Schüler müssen mich für einen Außerirdischen halten. Einer fragt, was ich denn lese? – Ich ziehe meinen Roman in der Tasche: Die Brüder Karamasoff. Die Schüler nehmen den Wälzer in die Hand, einer schlägt nach, wie viele Seiten? Über 1300!
Das macht mich glücklich: Ein Buch, das mir lange treu bleibt!
Die Schüler verstehen mich nicht mehr, und der Sensationswert ist verbraucht; ich erhalte das Buch zurück und beginne mit dem Unterricht.

Das geht ganz gut, bis plötzlich ein Aufruhr um den A entsteht.
Als es wieder möglich ist, sich zu verständigen, frage ich, was los war?
Der A zeigt seinen Nachbarn an: Der K hätte gefurzt, und dann – er führt eine Geste aus, die darstellt, wie er seine Winde dem anderen ins Gesicht fächelt.
Allgemeines Gegröle.
Früher hätte ich vor Empörung und Verlegenheit nicht gewusst, was zu tun sei. Aber die Jahre in dieser Schule härten ab. Und ich weiß, wenn ich schwach reagiere, büße ich meine Autorität ein.
„Nun, der K hat wohl seine anale Phase?“
Der Ausdruck zündet. Als die Belustigung abklingt, lauschen sie meiner Erklärung:
„Die anale Phase hat man normalerweise zwischen anderthalb und drei Jahren. Aber bei manchen wird die Entwicklung gestört, dann muss die anale Phase später nachgeholt werden. Für das Kleinkind in der analen Phase ist alles wichtig, was mit dem After zu tun hat. Man muss aufpassen, dass die ihre Exkremente nicht essen, denn das wollen sie auch probieren. Aber sie spielen auch gerne mit Matsch. Das ist gesund.“
Andere erzählen von ihren Geschwistern in der analen Phase …

Fürderhin ist der A ein Schüler, auf den ich zählen kann.

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