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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen / 18

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Zweiter Teil (18)

Intermezzo: Abschlussprüfungen in den höchsten Schulformen

Es folgt die zweite der Prüfungswochen, in denen ich an insgesamt 56 mündlichen Prüfungen teilnehme. In der ersten Woche bin ich nur Protokollant im Abitur, das wirklich nichts Besonderes ist, in der zweiten Woche bin ich in 23 Prüfungen Prüfer, und in 21 weiteren Prüfungen führe ich das Protokoll. Zwischendurch habe ich mal ein paar Stunden Pause, in denen ich normalen Unterricht halte, und am Montagnachmittag haben wir eine Abteilungskonferenz, die ich durch das Protokollieren überlebe.
Diese Woche ist also der Höhepunkt des Schuljahres, zu dem wir die Früchte ernten wollen, die wir ein Jahr lang begärtnert haben: Wissen, das mehr oder weniger oberflächlich trägt und allzu oft zu Einbrüchen führt. In der Masse der Prüflinge gibt es immer einen oder zwei, die im Gedächtnis haften bleiben: Der B aus meiner 12, ein ganz lieber Schüler, wollte sich auf eine Drei verbessern, hat sich das Thema Frauenbewegung im Rahmen der 68er-Bewegung gewünscht, sich vorbereitet, gründlich gearbeitet, und in der Prüfung hat er den FR-Artikel bekommen, den er schon mal gelesen hatte – ich wollte ihn retten, fragte vorsichtig, baute Brücken, die ihn nicht halten konnten, er brach, brach ein, und am Ende standen ihm die Tränen in den Augen.
Und der B2, der das ganze Jahr über dünne Bretter nur angebohrt hat, der B2 hatte zwei Seiten Internet-Ausdruck dabei – ich habe sie gesehen im Vorbereitungsraum, wo er sie sich mal angeguckt hat – anstatt sich breit auf das Thema Energiepolitik vorzubereiten, wie ich es ihm gesagt hatte; seine zwei Seiten gingen nur über Öl, und in der Prüfung konnte er oberflächlich über Öl reden; über die Umwelt sagte er nur, dass das mit dem Öl nicht so gut für sie sei, wegen dem CO2, aber da sollte ich nicht nachfragen, Chemie könne er nicht. – Und was meinen die GRÜNEN zum hohen Benzinpreis? – Sie setzten sich dafür ein, dass die Mineralölsteuer abgeschafft werde! – Nein, wir haben den B2 nicht fertig gemacht, er braucht eine Drei, um eine Fünf in einem anderen Fach auszugleichen, sonst würde er durchfallen; also gaben wir ihm keine Fünf, sondern die Drei.
Nein, an solchen Tagen würde ich nicht sagen, dass dieser Beruf einen seelisch trägt.
Oder liegt das an meiner Perspektive? Viele Schüler haben ihre Note verbessert, sogar durch überzeugende Leistungen, und da haben wir auch großzügig bewertet. So sollte es doch sein. Nur geschieht das vor dem Hintergrund eines allgemein schwachen Niveaus, auch im Abitur hätte ich nicht erwartet, dass man in drei Jahren kaum lernt, kritisch Stellung zu beziehen. Vielleicht ist das Problem auch gar nicht das schlechte Niveau, sondern meine Erwartung, mein Ideal von Abitur als Ausdruck kritischer Mündigkeit, die Wissen, Weltanschauung und Kompetenzen vereint. So sollen Menschen gebildet sein, zumindest Abiturienten! Was, wenn Abiturienten nichts bringen, keine Analyse, Kritikfähigkeit, nur ein oberflächliches Wissen? Ja, wer soll denn unsere Kultur sonst retten? Wenn selbst die Abiturienten wegbrechen, in Tumbheit absacken, auf BILD-Niveau ihren Urtrieben frönen? Mich packt das Grauen vor diesen German Topmodels, die, vom Fernsehen erzogen und verbildet, sich zwei, drei gegoogelte Seiten ausdrucken und glauben, damit ihr Prüfungsthema bestreiten zu können; die sich vor lauter Ahnungslosigkeit von den Massenmedien manipulieren lassen für Konsum, für Rohheit, für Demagogen, die sich gar nicht bewusst sind, welche Machtstrukturen sie lenken, welche „Nachrichten“ ihnen vorgesetzt werden und welche nicht, die sich nicht interessieren für eine Analyse, und wenn schon, so hätten sie gar nicht die Möglichkeit, etwas zu durchschauen, weil sie eben nur die Mattscheibe kennen und in die dritte Dimension des Denkens nie vorgedrungen sind. Nein, ich bin nicht der Einzige, dem es graut; viele Kollegen teilen mein Entsetzen, und wir stehen der Misere machtlos gegenüber, immer im Zwiespalt, das Individuum nicht für die gesellschaftliche Katastrophe bestrafen zu wollen, aber auch Faulheit und Torheit nicht ungeschoren davonkommen zu lassen.
So ist denn das Beste an den Prüfungen nicht die Ausbeute an Geistesfrüchten, sondern der Zusammenhalt der Kollegen, die stundenlang in den Prüfungskommissionen zusammensitzen und gemeinsam Noten finden, die vor Wissen und Gewissen vertretbar sind.
Unsere Verbundenheit fängt mit dem Prüfungswissen an, erstreckt sich über die pädagogische und schulpolitische Einmütigkeit hinein in tiefere Ebenen, und hier unten verwurzeln wir in unserer Schule. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken kann, es lässt sich schwer beschreiben, wie jede Gruppendynamik. Es sind zunächst nur kleine, unscheinbare, zarte Verbindungen:
Zuallererst ist da der Kollege B, das heimlich geliebte Herz unserer Schule, für uns alle schöpft er aus seinem konservativen Wertevorrat, befragt auch jeden Prüfling nach dessen Plänen für die Zukunft, so wie er am Schicksal eines jeden Menschen an unserer Schule teilnimmt, und noch in Anwesenheit des Prüflings neckt er mich mit seinen wirtschaftsliberalen Ansichten, und ich kontere, dass er mit dem Alter doch schon weicher geworden ist und sicherlich all seine bösen Aktien eines Tages für humane und ökologische Wohltätigkeiten umwidmen werde – und er kokettiert mit seiner Angst, zum Gutmenschen zu werden – wissen wir doch all längst, was unter seiner rauhen Schale ist: eine Güte wie bei Aljoscha Karamasoff, einer Christusfigur von Dostojewski (na ja, ich übertreiben etwas, aber wer weiß, wie es mit dem Kollegen B noch enden wird?).
Die neue Kollegin L achte ich in ihrem Ethos, in ihrer Entrüstung über das Banausentum der Schüler – ihre Empörung zeugt von einer weisen Unschuld, die mich schmelzen lässt. Mit dem Kollegen S werden wir warm über die Fürsorge für die Prüflinge.
Die Kollegin K lehrt mich in Chemie, einfühlsamer zu prüfen, und ich kann ihre Kritik annehmen.
Unseren Schulleiter, der den Kollegen S als Prüfungsvorsitzenden abgelöst hat, bitte ich, mir etwas Tee abzugeben, weil ich seit drei Stunden ununterbrochen in den Prüfungen bin, und gütig reicht er mir seine gefüllte Tasse, Schluck für Schluck genieße ich seinen Darjeeling und liebe ihn, liebe unseren Schulleiter, weil er so ist, wie er ist.
Und ich liebe den Kollegen M, den ich von Anfang an mochte und immer höher achten lernte, entdecke ihn als Seelenverwandten, wir werfen uns Blicke zu, wir empören uns über die gleichen Missstände, wir flachsen, wir spotten mit gleicher Ironie, und wir erfreuen uns der Geschwindigkeit unserer Kommunikation, die mindestens doppelt so schnell ist wie die gewöhnliche Lehrerkommunikation, die ja an sich schon schnell schießt. Der M und ich, wir brauchen uns nur von fern zu sehen, dann wissen wir schon etwas voneinander, brauchen Sätze nur anzureißen, und der andere denkt sie zu Ende, während er schon die Antwort gibt, eine Geste, eine Miene schon ist genug. Welch große Freundschaft könnte zwischen uns wachsen – wenn M sich nicht versetzen ließe, an ein Gymnasium weit, weit entfernt, an seinem Heimatort; in zwei Wochen wird er von uns gehen. Gemeinsam spazieren wir von den Prüfungen ins Lehrerzimmer und ich kann ihm nur sagen, dass ich traurig bin, aber wir bewegen uns in der Mittelwelt, und rasch gehen wir darüber hinweg. Die Trauer wird noch kommen.
Ich ahne nur, wenn ich von meiner Schule mich trennen würde, ich spüre es, ich wäre traurig, ich würde weinen, als wäre die Geschichte meiner Seele zu Ende.

Welche Gnade, bleiben zu dürfen!

4.6.8  Zwei Stunden zwischen mündlichen Prüfungen und mündlichen Prüfungen, da will ich die 10 BF X2 ihre Deutscharbeit schreiben lassen, aber wie immer belagern mich einzelne Schüler mit ihren Entschuldigungsschreiben, mit ihren Sonderwünsche und mit Geld, das sie bezahlen oder zurückhaben wollen, ich bitte sie, mit all dem zu warten, will die Arbeitszettel austeilen, finde sie nicht, die Schüler murren, ich suche fahrig meine Mappe durch, die 24 Abteilungen hat, vielleicht sind die Zettel in eine falsche Abteilung geraten? Nein, ich finde sie nicht, der B motzt immer penetranter, sie hätten schon eine Viertelstunde verloren! Gereizt bitte ich um Geduld, ich kann es ja nicht ändern, der B motzt, aber der K fragt, ob er mir helfen könne? – Erleichtert danke ich ihm, und lobe, welche Reife es ist, Geduld zu üben und nicht noch zu meiner Nervosität beizutragen, indem man jetzt und sofort alles haben will. Ich jage herunter ins Lehrerzimmer, wo ich die Zettel auf dem Tisch finde, sprinte zurück, und die Arbeit kann beginnen.
In der relativen Stille der Arbeit merke ich, dass ich meine Klasse behalten will. Es ist wohl doch nicht alles umsonst.

11.6.8
Der K ist nicht da. Fünf andere Schüler fehlen ebenfalls. Aber 13 sind gekommen, und fast alle haben eine unterschriebene Einverständniserklärung. Nur der A gibt mir keinen Schein ab. „Wollen Sie mitfahren, Herr A?“ – „Ja.“ – „Sind Sie volljährig?“ – „Nein.“ – „Dann müssen Sie mir die Erklärung abgeben!“ A druckst herum, doch, doch, er habe sie eingesteckt; er nestelt in seiner Lendentasche, ohne Ergebnis. Nach ein paar Minuten im Abseits zeigt er mir einen handgeschriebenen Wisch: „Hiermit erlaube ich die Klassenfahrt.“ Ohne Ort, ohne Datum unterschrieben von einer ungewissen „Zurife A“ – „Geht das so? Ich habe das Gedruckte nicht mehr gehabt.“ – Da ich will, dass A mitfährt, akzeptiere ich.
Auf dem Weg zum Bahnsteig frage ich den O, wie denn das Wochenende bei seinem Vater gewesen sei? – Davon hätte er nicht soviel mitbekommen, er sei betrunken gewesen. – Hat der Vater das denn nicht verboten? – Den hätte er nicht gefragt, sie seien zusammen auf einer Party gewesen, und der Vater habe nichts gesagt.
Als wir den Zug betreten, finde ich auf einer Ablage einen Stapel Zeitungen. „Ich habe die Frankfurter Rundschau gefunden“, jubele ich, will den Schülern von meinem Schatz abgeben, aber sie lachen mich aus. Ja, sie finden es komisch, wie ich mich freue, nur weil ich Müll gefunden habe! – Unverzagt biete ich meine Zeitungen an, und weil wir in der EM sind, gibt’s Fußballphotos auf den Titelblättern, und so lassen sich zwei, drei Schüler, neben die ich mich setze, dazu herbei, das Papier entgegen zu nehmen …
Vor dem Museum empfängt uns der Direktor und einer, der sich als Lehrer vorstellt und mir eröffnet, dass er mich sofort erkannt habe: Wir hätten zusammen studiert! – Der Mann scheint etwas jünger als ich zu sein, trägt einen Ein-Zentimeter-Bart, sonst äußerlich unauffällig; ich kann mich nicht erinnern, ihn gekannt zu haben. Doch, doch, insistiert er, wir hätten sogar eine Referatsgruppe zusammen gehabt. Das hilft mir nicht, mein Gedächtnis lässt mich im Stich, auch sein Name ist mir fremd; vor den Schülern schaue ich beschämt zum Fußboden: Pflastersteine.
Der ehemalige Kommilitone brilliert nicht nur mit seinem Personengedächtnis, sondern auch als Pädagoge. Geschickt bereitet er die Schüler auf „eine schreckliche Zumutung“ vor: Das sei nicht nur ein Museum, sondern auch Gedenkstätte für tausende von Zwangsarbeitern, von denen manche den Tod gefunden hatten. Deshalb bitte er, den Opfern Respekt zu erweisen, und dafür gebe es die Regel: Kappen ab und Handys aus! Jaja, sie hätten doch schöne Frisuren darunter, usw. – Die Schüler sind folgsam, und ich kann mich nachlassen.
Drinnen werden wir in eine Dachkammer geführt, wo Beamer und Projektionsfläche installiert sind. Zuerst fragt er nach unserem Vorwissen, unseren Erwartungen; da gibt es nicht viel. Sodann darf sich jeder eine laminierte Karte ziehen, auf deren Rückseite ein Photo oder ein Diagramm zu sehen ist. Dann soll jeder seine Karte präsentieren, und anschließend überlegen wir, welche Karten zusammen passen, und in welcher Reihenfolge sie am sinnvollsten wären. So gruppieren und sortieren wir, und zugleich stellt der Lehrer die Bilder in der von uns gewünschten Reihenfolge auf dem Laptop zusammen. So erhalten wir einen von uns selbst strukturierten Vortrag, den der Lehrer uns nun hält. Vortrag ist nicht der rechte Begriff. Dazu ist der Lehrer zu schülerorientiert. Er erzählt ein bisschen, dann fragt er die Schüler nach ihren Gedanken, findet alles mögliche, was die Schüler sagen, gescheit, lässt sie Recht haben, lobt sie, bringt sie aber auch noch auf andere Schlussfolgerungen, alles so, dass die Schüler keinem Gedankengebäude folgen müssen, sondern alles selbst mit aufbauen. Zum Beispiel fragt der Lehrer: „Warum hat sich die deutsche Luftwaffe einen Wald als Standort für Munitionsfabriken ausgesucht?“
„Zum Verstecken!“
„Ganz genau. Der Wald dient zur Tarnung. Gut gefolgert. Aber das war auch eine leichte Frage, oder?“
Die Schüler stimmen ihm zu. Sie schätzen den Lehrer, der sie würdigt, aber nicht für dumm verkauft.
Am Ende der Stunde sagt der Lehrer, dass das alles sehr anstrengend war, und dass wir jetzt eine ordentliche Pause verdient hätten. Zehn Minuten? Reicht das zum Rauchen?
Damit nicht genug; als die zehn Minuten vorüber sind, holt er die Schüler vom Hof ab; nicht aber, dass er sie hineintriebe – vielmehr spornt er sie an: „Ihr sollt schneller rauchen!“ Und als noch immer zwei Kippen nicht abgebrannt sind, treibt er es auf die Spitze: „Ziehen, Jungs, ziehen, dass das Zeug in die Lunge kommt!“ Sie ziehen, aber noch immer bleiben zwei Zentimeter übrig. „Saugen!“ ruft er, „saugen!“ und die Schüler sind begeistert: So habe sie noch nie ein Lehrer angetrieben!
„Ja, früher habe ich auch geraucht“, sagt der Lehrer, „da war ich noch fit, so wie ihr. In eurem Alter kann man alles ab.“
Im Museum kriegen wir erst eine Einführung, drei, vier Exponate erklärt der Lehrer – natürlich im schülerorientierten Gespräch. Der B läuft immer mal wieder ins Abseits, und plötzlich ist dem Lehrer diese Unruhe zuviel: „Du da hinten, das geht mir auf den Pinsel!“ B stellt sich unschuldig, aber nachdem der Lehrer das mit dem Pinsel wiederholt hat, herrscht Ruhe.
Dann kriegen wir Arbeitsaufträge, je zwei, drei Schüler zusammen ein Arbeitsblatt mit Klemmbrett, und sie sollen zu einem Thema die Schautafeln durchlesen und Fragen beantworten. Geht fast durchgängig gut, nur der K2 steigert sich in ein wildes Herum­gealber hinein, ich stutze ihn zurecht. Ansonsten erledige ich so ein Arbeitsblatt, wie es die Schüler auch tun.
Zum Schluss ruft der Lehrer uns zusammen; jeder kann die Ergebnisse vortragen, die ihn am meisten beeindruckt haben, und als wir mit der schülerzentrierten Auswertung fertig sind, bin ich soweit nachgelassen, dass ich die Schüler mit einem Angebot überrasche: Wenn wir gleich zum Bahnhof gehen, könnten wir einen Zug kriegen, der eine Stunde früher fährt als geplant. Wir stimmen darüber ab, wer will jetzt gleich zurückfahren? – Alle melden sich. So kann ich, lässigerweise, ein wenig zum Glück beitragen.
Ich will dem Lehrer danken, dass ich doppelt von ihm gelernt habe: nicht nur historisches Wissen, sondern auch moderne Lehr-Methoden. Nur leider habe ich seinen Namen vergessen. Schon wieder! Ich bin unbelehrbar. In heimlicher Scham spreche ich ihn an, ohne seinen Namen zu nennen, danke ihm, und verabschiede mich rasch.
Auf dem Rückweg befrage ich die Schüler, wie es ihnen gefallen habe?
Gut! Aber sie sind enttäuscht, weil ich ihnen angekündigt hatte, dass wir Außenanlagen und unterirdische Fabriken zu sehen bekämen. Ein Irrtum! Mein Fehler. Aber mit dem, was wir erlebt haben, sind alle (!) Schüler zufrieden.

Auch ich bin zufrieden. Was ich erlebt habe, ist ein hervorragender Unterricht.
Könnte ich auch so ein Lehrer sein? Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich bin ein anderer Typ. Der Lehrer hat erwähnt, dass er anfangs in der Sonderschule für praktisch Bildbare gearbeitet habe, was ihm sehr gut getan habe. Dort hat er anscheinend gelernt, dass jeder Versuch ein guter Versuch ist.
So eine Ausbildung habe ich nicht. Ich bin Gymnasiallehrer. Ich liebe das Lehren und weniger das Herunterbrechen. Aber wer will sich noch belehren lassen?
Auf jeden Fall habe ich eine Orientierung bekommen, einen praktischen Referenzpunkt für Schülerwürdigung. Künftig will ich es besser machen. Wie immer.
Das nächste Schuljahr wird es erweisen.

17.6.8, letzte Stunde PoWi, nur die halbe Klasse ist noch da. Sie wollen diese Stunde ausfallen lassen, weil wir letzten Dienstag, als wir noch die Noten zu besprechen hatten, eine Stunde länger hatten.
„Nein. Ihr hattet nicht zuviel Unterricht, sondern zu wenig. Jede Woche sind zwei Stunden Deutsch bei euch ausgefallen. Jetzt haben wir Unterricht!“
Der G will nur Karten spielen.
„Ich habe euch etwas mitgebracht“, sage ich, und die Schüler ahnen nichts Gutes.
Ich hole eine Broschüre hervor: autobiographische Geschichten einer Jüdin, die ihre ganze Familie im KZ verloren hat; sie selbst wurde von Mengele als „arbeitsfähig“ selektiert und kam als Zwangsarbeiterin in die Munitionsfabrik, die wir letzte Woche besucht haben.
Nach einem kurzen Tauziehen einigen wir uns auf einen Kompromiss: Eine Viertelstunde darf ich den Schülern aus der Autobiographie vorlesen, danach dürfen sie Karten spielen.
Ich nutze die zugestandene Zeit und lese ihnen vor, tauche ein in das beherzt aufgezeichnete Leiden der Frauen, die sich immer wieder gegenseitig retteten, meine Stimme wird leise und zerbrechlich, die Schüler hören zu, und die Geschichte hat uns – bis der G meldet, dass die Viertelstunde schon lange vorbei sei. Der D ist empört, will weiter zuhören, aber ich komme schnell zum Ende, weil ich es ja versprochen habe. Außerdem habe ich den L, der uns mittendrin gestört hat, draußen warten lassen: Die Zwölfer werden gerade entlassen, die Reden des Schulleiters sind vorbei, und der L braucht seine Zeugnisse, die ich zurückbehalten habe, weil er ein Jahr lang sein Kopiergeld schuldig geblieben war. So soll er warten, bis die Stunde zu Ende ist. Meine Zehner haben das gern mit angesehen, aber jetzt meinen sie, dass ich mich doch um den L kümmern sollte, dann würden sie ihren Bus noch kriegen. Ich willige ein, weil ich auch noch eine Nachholprüfung habe, und wir sind alle zufrieden.

18.6.8  Nachbereitung des Schuljahrs, ich lasse mich vor, um zu hören, was die Jungs an Kritik und Verbesserungsvorschlägen sagen wollen. K und J haben einen Rat für mich: Ich solle alles nicht so eng sehen, ihnen nicht mit irgendwelchen Maßnahmen drohen, sondern lieber darauf eingehen, wenn sie etwas sagen, also ihre Unterhaltungen zu Unterrichtsbeiträgen machen, und dann wäre es keine Störung mehr, und keiner mehr hätte Stress. Als ich rückfragte, wie das gehen sollte, wenn sich vier, fünf, sechs Leute gleichzeitig unterhalten, bekam ich eine indirekte Antwort: Die Frau M, die junge Lehrbeauftragte, bei der sie im vorigen Halbjahr Deutschunterricht hatten, die hätte es hingekriegt; sie hätte gemerkt, dass sie mit Schreien nichts ausrichten konnte, und dann hätten sie miteinander geredet und sich zusammengerauft.

12.00, wir sitzen im Straßencafé. Die drei K’s haben sich unterwegs abgesetzt, was sollen sie sich auch noch an Vereinbarungen halten, die Zeugniskonferenz ist gelaufen, alle drei sind in die Elf versetzt worden.
Bei Eis und Tee erfahre ich etwas über SÜD, den „Samenüberdruck“. D erzählt, dass er ihn parallel bei zwei Freundinnen abgelassen hatte, ein paar Mal ging es gut, dann setzte es Ohrfeigen, erst von der einen, dann von der anderen. Wir grinsen.
Selten schmeckt mir der Tee so gut.
Freut ihr euch auf die Sommerferien? – Aber klar doch! – Und was habt ihr vor? – Der B freut sich, dass er seine Freundin, die 15 km entfernt wohnt, jeden Tag sehen kann; G freut sich auf das reine Nichtstun. – Das wäre mir nach einem Tag langweilig, halte ich dagegen. – Mir nicht, beteuert der G, er würde sechs Wochen lang chillen, das wäre gut. Andere bestätigen das. – Und was macht ihr, wenn ihr chillt? – Gar nix! Abhängen.
Hinter dem V taucht ein Mädchen auf, hält V die Augen zu; sie wechseln ein paar intime Worte, bald ist sie wieder weg. „Deine Freundin?“ frage ich den V. – „Meine Ex.“ – „Ihr seht noch recht vertraut aus.“ – „Sie will ja wieder was von mir. Aber ich hab ihr gesagt, ich lieb sie nicht mehr. Vorbei, nur sie rafft es nicht.“ – „Hast du eine Neue?“ – „Nein, das ist jetzt meine Freundin“, sagt er, auf sein Fahrrad deutend, ein teures Gelände-Springer-Rad. Der N fragt, ob er sich ein Bier bestellen dürfe? – „Doch nicht so früh am Tage“, wehre ich ab. – „Aber nach eins, wenn der Unterricht aus ist?“ – „Meinetwegen.“ – Kurz bevor wir aufbrechen, bestellt sich N ein Pils, und eine Minute später hat er es abgekippt.
In der X1 fragte ich ebenfalls, ob sie sich auf die Ferien freuen? – Nein, ist die einhellige Antwort: Das wäre langweilig, sechs Wochen herumhängen. – Und jobben gehen, oder ein freiwilliges Praktikum machen? – Da hätten sie sich erkundigt: nichts zu machen, die Betriebe hätten sie abgewimmelt.
Ich wusste schon immer, dass die X1 eine bessere Arbeitshaltung hat als meine X2.

In der Stadt treffe ich auf S2, einen ehemaligen Berufsfachschüler, den wir kürzlich mit der Mittleren Reife entlassen haben. Er war beim Arbeitsamt. Warum, er hatte einen Ausbildungsplatz zugesagt bekommen, und als er jetzt seinen Vertrag abschließen wollte, teilte der Betrieb mit, dass sie sich entschieden hätten, doch nicht auszubilden. Also kein Ausbildungsvertrag, und das Arbeitsamt habe auch nichts. Ich kann dem S2 nur sagen, dass es mir Leid tut, und dass er vom Arbeitsamt nichts erwarten dürfe. Warum behalte ich meine Wut über die verantwortungslose Politik gegenüber jungen Menschen für mich? Ich glaube, noch mehr Opferrolle würde dem S2 nichts nützen. Er ist jung und soll noch kämpfen.

20.6.8  Der K will Zoff machen, weil er in „Sozialverhalten“ eine Fünf im Zeugnis hat.
„Die Klassenkonferenz hat das einstimmig beschlossen“, halte ich ihm entgegen, und als er weiter stänkert, erinnere ich ihn an die Dicke seiner Akte – „Welche Akte denn!“ hebt K an, aber er fügt sich, ich bin froh, dass der Kollege HH ihn schon auf die Fünf vorbereitet hat und K’s Unmut an Argumenten hat abprallen lassen. Auch alle Schüler, die mal wieder nicht glauben wollen, dass in ihrem Zeugnis unentschuldigte Fehltage stehen, geben den Protest bald auf. Mit abfälligen Äußerungen verlassen sie den Klassenraum. Wahrscheinlich überlassen sie das Beschweren den Eltern.
Vier Schüler kommen zwanzig Minuten später zur Zeugnisausgabe. Sie haben etwas länger Pause gemacht. Alle anderen sind schon weg. Ich lotse die Nachzügler in Raum 137 und gebe ihnen Arbeit: 80 DUDEN-Bände in die 14 neuen tragbaren Mini-Regale einsortieren! Dem R passt das nicht: „Wann geben Sie uns unsere Zeugnisse?“ Nachdem er zweimal, dreimal beanstandet hat, dass die Schule seine Arbeitskraft ausbeutet, gebe ich ihm sein Zeugnis: „Hier, damit das Gemecker aufhört!“
Nun räumt R weiterhin Bücher ein, aber ein paar Minuten später fragt er erneut: „Wann geben Sie uns die Zeugnisse!“ – Ich lache: „Herr R! Sie haben vergessen, dass Sie gar nichts mehr zu meckern haben!“
Jetzt wedelt R mit seinem Abgangs-Zeugnis herum: „Was ich für tolle Noten habe! Drei Fünfer und eine Sechs. Da wird sich jeder reißen um mich!“ Er will mir Vorwürfe machen, aber ich reagiere nicht darauf.
Nur eines trifft mich, ich zeige es nicht, trotzdem trifft es mich an einem wunden Punkt, mit welchen Worten sich der R von mir verabschiedet: „Herr I, ich werde Sie nie vergessen. Ihr Unterricht war einmalig.“ – „Inwiefern?“ – „Sie konnten sich nicht durchsetzen.“

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