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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Metanoia – über das Denken hinaus“

Opernprojekt von Jens Joneleit an der Berliner Staatsoper –
Christoph Schlingensiefs letzte Arbeit

Ich kann heulen, solange es Menschen gibt“

Betrachtungen von Renate Feyerbacher

Vorspann: Die Staatsoper unter den Linden hat mit Beginn dieser Spielzeit ein Ausweichquartier bezogen. Es ist das Schiller-Theater, das legendäre Schauspielhaus, an dem Regisseure wie Gustaf Gründgens, Fritz Kortner, Peter Zadek, George Tabori und Hans Neuenfels unvergessliche Theaterabende schufen. Hier spielten Bernhard Minetti, Sabine Sinjen, Katharina Thalbach und viele andere Schauspielgrössen. Protest gab es, als der Senat die grösste deutsche Sprechbühne aus finanziellen Gründen schliessen liess. Das war vor 17 Jahren. Derzeit gibt es den Protest und Kampf beim Deutschen Theater in Hamburg. Drei Jahre lang wird sich die Staatsoper nun im Schiller-Theater einrichten müssen. Der schöne Bau hat sich aber schon bewährt.

Metanoia“ – ein Schlingensief-Projekt über mehr als zwei Jahre

An einem Tag im Januar 2008 bekommt Christoph Schlingensief die erste Diagnose: Lungenkrebs. Zufällig trifft er noch am gleichen Tag Daniel Barenboim, den Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Ihm erzählt er als einem der Ersten von seiner Krankheit. Der Dirigent hatte dem jungen Komponisten Jens Joneleit einen Kompositionsauftrag gegeben. Aber bisher fehlt das Libretto, und Barenboim versucht in diesem intimen Gespräch, Schlingensief für diese Arbeit zu gewinnen. Dieser sagt nach einigem Zögern auch zu und entscheidet sich für Friedrich Nietzsches Text „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. Seine Krankheit macht das Schreiben eines Librettos unmöglich. Sein Freund, der 1962 im hessischen Friedberg geborene Dramatiker René Pollesch, schafft die Grundlage für ein Libretto: „Ich habe dann die ersten zwanzig Seiten von dem Nietzsche mit Texten von mir beballert, ohne aber beim Nietzsche etwas zu streichen.“ Das Libretto schreiben schliesslich Jens Joneleit und Jens Schroth. Kein leichtes Unterfangen.

Christoph Schlingensief am 5. Oktober 2009 im Schauspiel Frankfurt; Foto: © Renate Feyerbacher

Die Oper sollte in einer Landschaft aus überlebensgross nachgebauten menschlichen Organen stattfinden und auch die Sängerdarsteller sollten Körperteile, Organe, Zellen, Parasiten, Eindringlinge sein, die in diesem Körper ein Eigenleben führen. Das passte für ihn (Schlingensief) zum Libretto, in dem es zum Beispiel heisst: ‚Sei doch froh, endlich mal einen Körper vor dir zu haben, der nicht vom Bewusstsein regiert wird. Hier macht eben jedes Organ, was es will. Das ist Evolution‘.“ So steht es auf dem Zettel, der dem Programmheft beiliegt. Mehr war von der Schlingensiefschen Intention nicht bekannt.

Bühnenbilder werden angefertigt und im März gibt es die erste Stellprobe. Am 21. August 2010 stirbt Christoph Schlingensief, zwei Tage vor dem Probenbeginn in Berlin.

Bildung eines „kopflosen“ Produktionsteams

Zu diesem „kopflosen“ (so nennt es sich selbst) Team gehören unter anderen Aino Laberenz, die Witwe Schlingensiefs, Kostümbildnerin, die seit 2004 zu seinem Team gehörte, die Sängerinnen Annette Dasch, Anna Prohaska, Daniel Barenboim, der Schauspieler Martin Wuttke und der Dramaturg Carl Hegemann. Er war schon an Schlingensiefs „Parsifal“ in Bayreuth und am „Fliegenden Holländer“ im brasilianischen Urwald, in Manaus, dabei. „Die Gemeinschaftsarbeit könnte als ein Dokument des Fehlens und gleichzeitig auch der Anwesenheit (Schlingensiefs) verstanden werden,“ so schreibt die Gruppe.

SOPRAN Anette Dasch, BASSBARITON Daniel Schmutzhard, CHARAKTERTENOR Graham Clark

Es wird kein nachgemachter Schlingensief. Das ist gut so. Herausgekommen ist allerdings eine statische Realisierung. Es fehlt Schlingensiefs Lebensinput. Man könnte sich vorstellen, dass bei ihm die Mitglieder des Chores in den Bühnenorganen herumgewuselt wären. So stehen sie in ihren gelben Ganzkörperanzügen nur an der Bühnenrampe, marschieren im Gänsemarsch ein und aus.

BASS Alfred Reiter, SCHAUSPIELER Martin Wuttke, SOPRAN Annette Dasch, BASSBARITON Daniel Schmutzhard, KOLORATURSOPRAN Rinnat Moriah, CHARAKTERTENOR Graham Clark

Auch die fünf Sängerinnen und Sänger positionieren sich so. Zwischendurch mal ein kleiner Gang ins Publikum. Und im Hintergrund laufen Video-Produktionen von Schlingensief und Texte. Entstanden ist quasi eine konzertante, sich widersprechende Inszenierung, die dem sich widersprechenden Text manchmal entspricht.

SCHAUSPIELER Martin Wuttke

Die Oper: Text und Musik

Metanoia bedeutet lateinisch: Busse, Reue (katholischer Aspekt), griechisch: Umdenken, Umkehr des Denkens, Sinnesänderung (protestantischer Aspekt).

Letzteres ist wohl gemeint. Es gibt keinen Erzählstrang, keine fest umrissenen Charaktere. Es gibt Standpunkte, über die verhandelt, debattiert wird.

„Es geht um Veränderung, nicht gleich der Gesellschaft, das wäre doch zuviel verlangt, aber doch um Veränderung von Wahrnehmungen, von Sicht- und Hörweisen, von Verständnis im weitesten Sinn, das mehr oder weniger eingefahren ist,“ schreibt Jens Joneleit. „Es geht um Einheit, um Leben, Liebe und den Tod.“

BASS Alfred Reiter, SCHAUSPIELER Martin Wuttke, SOPRAN Annette Dasch, BASSBARITON Daniel Schmutzhard, KOLORATURSOPRAN Rinnat Moriah, CHARAKTERTENOR Graham Clark

Es wird vom Zuschauer / Zuhörer viel verlangt. Die Texte sind eben von Pollesch beballerte Nietzsche-Sätze, die in Übertiteln eingeblendet werden. Es geht um „Verdunkelung. Die Geburt. Gegenwart der Tragödie“. Philosophievorlesung. Von einem Libretto kann nicht geredet werden. Es ist eine Aneinanderreihung philosophischer und pseudophilosophischer Positionen. „Ich kann heulen, solange es Menschen gibt,“ singen sie.

Annette Dasch

Die Musik von Jens Joneleit, geboren 1968 in Offenbach, mittlerweile vielfach ausgezeichnet, hat faszinierende Momente. Sie ist eruptiv. Sie begleitet vorzüglich den Gesang, der durch Annette Dasch, Daniel Schmutzhard, Graham Clark, Alfred Reiter und Anna Prohaska überzeugend übermittelt wird. Die Textpassagen spricht Martin Wuttke, der an allen grossen deutschen Bühnen spielt, der zuletzt in Quentin Tarantinos Film „Inglorious Bastards“ mitwirkte.

Da gibt es eindrucksvolle instrumentale Solopassagen. Daniel Barenboim wird am Ende für die grossartige Orchesterführung bejubelt, ebenso der Komponist. Es gefällt, dass der Generalmusikdirektor alle Musiker beim Schlussapplaus auf der Bühne um sich schart und sie so der Orchestergraben-Vergessenheit entreisst.

„Metanoia“ an der Berliner Staatsoper wird in dieser Spielzeit erst wieder am 2. und 5. Juli 2011 aufgeführt.

BASS Alfred Reiter, SOPRAN Annette Dasch, BASSBARITION Daniel Schmutzhard, CHARAKTERTENOR Graham Clark, STAATSOPERNCHOR

Bildnachweis (ausser Schlingensief-Porträt): Staatsoper im Schiller-Theater Berlin, Fotos © Monika Rittershaus

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