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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Blindheit des Sehens“ im Frankfurter KunstBlock

„Bildnisse sehen nicht? Du irrst Dich, die Bilder und Figuren sehen mit den Augen, die sie betrachten“ schrieb der Literatur-Nobelpreisträger José Saramago.

Und der Philosoph und Essayist Paul Valéry: „Ein Kunstwerk sollte uns immer beibringen, dass wir nicht gesehen haben, was doch vor unseren Augen liegt.“

Blindheit des Sehens – so der Titel einer Ausstellung im Frankfurter KunstBlock (Bellavista Film), kuratiert von Florian Koch in Kooperation mit dem benachbarten DialogMuseum („Blindenmuseum“) und dem Frankfurter Künstler Klaus Schneider. Provokation? Realität?

Gleich zu Beginn nimmt ein „Buch“ unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Klaus Schneider hat es in der Bibliothek der Bellavista aufgestellt, es ist aus Holz, der Titel und die einzige aufklappbare „Seite“ in Brailleschrift, auf der linken Innenseite mit Holzkugeln materialisiert, denen Versenkungen in der rechten entsprechen. Wir können sie nicht lesen. Nicht den Inhalt des Geschriebenen erfassen. Unsere Fingerkuppen gleiten hilflos über die Holzkügelchen.

Blinde lesen, was sie nicht sehen können.
Wir Nichtblinden sehen, was wir nicht lesen können.

Klaus Schneider, wer-wir B (oben) und A (unten), 1996 und 2001, Nussbaum- und Buchenholz, Scharniere, Holzkugeln, 30 x 25 × 6 und 25 × 25 × 6 cm (Fotos: Klaus Schneider)

Seit vielen Jahren setzt sich Klaus Schneider in „Sprachbildern“ mit dem Phänomen der Kommunikation unter Menschen, mit den Möglichkeiten und Grenzen – visueller – Wahrnehmung, von Sprache und Schrift auseinander. In seinen Arbeiten – seien es Malereien oder Zeichnungen, Fotografien oder Installationen – konfrontiert er den Betrachter mit Blindenschrift. Oft bezieht er diesen selbst, wie in der Serie „autobiograf“, mittels bearbeiteter Spiegelflächen, durch Öffnungen, die die Blindenschrift in der Lackierung freigibt, in das zu Betrachtende unmittelbar ein.

Klaus Schneider, autobiograf, 2010, Spiegel, Acryllack, 40 x 65 cm (Foto: FeuilletonFrankfurt)

Schneider, 1951 geboren, studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstpädagogik an der Frankfurter Goethe-Universität und anschliessend Malerei, Zeichnung und Druckgrafische Techniken an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg. Der Künstler lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Bernd Reich, madonna, 2010, Fotografie, gestochen, 18,7 x 12, 8 cm (Foto: Ausstellung/Klaus Schneider)

In seiner Werkreihe „Stupfarbeiten“ perforiert Bernd Reich – in Anlehnung an die Prägung von Papier mittels der Brailleschrift – mit einer Nadel Fotografien, die von der ausgestellten Rückseite her eine fragmentarische Negativ-Darstellung des fotografischen Abbilds zeigen. Ob das „gestupfte“ Papier tatsächlich einer entsprechenden rückseitigen Fotografie entspricht, lässt der Künstler jedoch offen und stellt damit die Abbildfunktion auf eine grundsätzliche Weise in Frage.

Bernd Reich, 1966 in Freudenstadt geboren, studierte mit Diplomabschluss an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung HfG.

Helga Griffiths, Trust II, 2008, Rauminstallation (Foto: FeuilletonFrankfurt)

Auch Helga Griffiths knüpft in ihrer äusserst komplexen Video-Installation formal an die Brailleschrift an: Sie ordnet verspiegelte, undurchblickbare Linsen so an, dass sie das Wort „trust“ wiedergeben. Darauf projiziert sie von einer Blinden aufgenommene Videobilder, die sich in fragmentierte Lichterscheinungen auflösen, und stellt damit das Vertrauen in Frage, welches wir im Zeitalter massenmedialer Bildüberflutung dem uns visuell Vermittelten entgegenbringen.

Helga Griffiths wurde 1959 in Ehingen geboren und studierte an der Rutgers University, Mason Gross School of the Arts, N. J., an der Kunstakademie Stuttgart und an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung.

Marie José Burki, Blindsight: Hibou (Videostill), 1993, Video (Foto: FeuilletonFrankfurt)

Marie José Burki scheint in ihrer nicht minder komplexen, bei allem humorvollen Videoarbeit José Saramagos eingangs zitierte Erkenntnis umzusetzen. Ein (Video-) Bild schaut uns an: in Gestalt einer scharfblickenden Eule, in deren Iris und Pupille sich durchaus alltägliche Szenen abspielen, beispielsweise Reiter auf Pferden vorüberziehen. Wer blickt wen an? Wo entstehen die Bilder? Sehen wir die Realität oder das, was wir dafür halten?

Marie José Burki, 1961 im schweizerischen Biel geboren, studierte in Genf französische Literatur und besuchte die dortige Ecole Supérieure d’Art Visuel. Sie unterrrichtete an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam und an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg; derzeit lehrt sie an der Ecole nationale supérieure des beaux-arts de Paris. Burki lebt und arbeitet in Brüssel.

Jelena Heitsch, Zierde und Halt, 2008, Papierpulp, 69,5 x 56,6 cm (Foto: Ausstellung/Klaus Schneider)

„Anwesenheit von Abwesenheit“ ist das Thema von Jelena Heitsch; das „Verborgene und Imaginäre, welches einzig und allein in der Vorstellung und Phantasie des Betrachters aktiviert werden kann“. Ein Bilderrahmen ohne Rahmeninhalt unterbricht herkömmliche Sehgewohnheiten und öffnet eine Fläche für Projektionen des Betrachters.

Die 1982 in Dachau geborene Jelena Heitsch studierte Bildhauerei und Installation an der Akademie der Bildenden Künste München; ihr Studium schloss sie in diesem Jahr mit dem Examen ab.

Karsten Kraft, Dark, 2010, Acryl auf Leinwand, 150 x 200 cm (Foto: FeuilletonFrankfurt)

Karsten Kraft nähert sich mit malerischen Mitteln der Thematik. Aus mannigfach aufgetragenen Farbschichten bestehen seine „schwarzen“ Bilder. Schaut man lange genug darauf, erblickt man farbig-flächige Strukturen. Scheinbar Unsichtbares wird sichtbar.

Karsten Kraft, 1968 in Frankfurt am Main geboren, studierte an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste – Städelschule – bei Professor Hermann Nitsch und wurde Meisterschüler im Fach Interdisziplinäre Künstlerische Arbeit.

Nicole Ahland, Zwischengängerin, 2003, 2-teilig, C-Print, je 88 x 120 cm (© VG Bild-Kunst, Bonn, Foto: FeuilletonFrankfurt)

Wir kennen die mit analoger Technik arbeitende Künstlerin Nicole Ahland als eine Meisterin der fotografischen Bildsprache, in der sie oft das Sichtbare in das nur noch Erahnbare transformiert – in einer, könnte man sagen, ins Transzendente führenden Transparenz. Ihren Bildern von malerischer Anmutung eignet stets etwas Spirituelles, das uns in eine andere Dimensionen des Sehens und Erkennens zu führen vermag.

Nicole Ahland, 1970 in Trier geboren, studierte Freie Kunst an der Akademie für Bildende Künste der Universität Mainz. Sie lebt und arbeitet in Wiesbaden.

Weiter sind in der Ausstellung im Frankfurter KunstBlock, die man keinesfalls versäumen sollte, die Künstler

Evgen Bavcar
Martin Brüger
Markus Frohnhöfer
Jochem Hendricks und
Willes Meinhardt

vertreten.

„Die Ausstellung versammelt ausgewählte Arbeiten von Künstlern, die sich … mit dem Sichtbarmachen von Unsichtbarem auseindergesetzt haben“, schreiben Florian Koch und Klaus Schneider. „In der Summe geht es also um die Absenz des Sehens im visuellen Objekt. Die Ausstellung nähert sich diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen künstlerischen Medien an.“

Frankfurter KunstBlock, Bellavista-Film, noch bis zum 20. November 2010

Begleitet wird die Ausstellung von einer 90minütigen Spezial-Tour durch einen musealen Erlebnisraum „Dialog im Dunkeln“ im benachbarten DialogMuseum.

(Abbildungen © jeweilige Künstlerinnen und Künstler)

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