home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Lateinamerika – eine aufstrebende Region

Lateinamerika – eine aufstrebende Region

Text / Gespräch und Fotos: © Renate Feyerbacher

Übersetzung: Nadine Mager*

Vor zwei Jahren eröffnete in Frankfurt am Main das lang ersehnte Instituto Cervantes, das spanische Kulturinstitut, das sein deutsches Gegenüber im Goethe-Institut hat. Seit einem Jahr ist Mercedes de Castro Direktorin des spanischen Instituts, das in das ehemalige, denkmalgeschützte Amerikahaus in der Staufenstrasse zog. Ein grossartiger kultureller Wind weht dort, seitdem Frau de Castro das Haus führt. Sie absolvierte ein D.A.A.D – Stipendium in Hamburg, arbeitete im spanischen Bildungs- und Erziehungsministerium, leitete das „Cervantes“ in Bremen und war in München stellvertretende Chefin des dortigen Instituto.

Pünktlich zur Buchmesse, die Argentinien zu ihrem Schwerpunkt erkoren hatte, gab es ein Forum der iberoamerikanischen Kulturen, in dessen Mittelpunkt die neue Iberoamerikanische Kulturcharta stand. Es war eine Uraufführung. Die Kulturcharta, die auf Deutsch vorliegt, wurde zum ersten Mal in Europa vorgestellt, wie Juergen Boos, der Direktor der Frankfurter Buchmesse, stolz verkündete. Hochkarätig besetzt war denn auch das Podium, auf dem auch der Generalsekretär von SEGIB, des 2005 gegründeten Secretaria General Iberoamericana, Enrique Iglesias, sass. Die Familie des 1931 in Spanien geborenen Staatsmanns wanderte nach Uruguay aus, als der Junge drei Jahre alt war. Enrique Iglesias führte bedeutende Banken und war Aussenminister von Uruguay. Er besitzt die spanische und die uruguayische Staatsbürgerschaft, eine gute Voraussetzung für eine intensive lateinamerikanisch-europäische Zusammenarbeit. Mit auf dem Podium waren, ausser der Hausherrin, noch der spanische Botschafter und Juergen Boos.

(von links) der spanische Botschafter Rafael Dezcallar de Mazarredo, Enrique Iglesias, Mercedes de Castro, Juergen Boos

Für FeuilletonFrankfurt beantwortete Enrique Iglesias Fragen zur Kulturcharta und zu SEGIB, das in den vier Bereichen Politik, Wirtschaft, Soziales und Kultur aktiv ist und zu dem die Länder Lateinamerikas, aber auch Spanien und Portugal gehören.

Iglesias: „Die Kulturcharta soll als weltweites Beispiel gelten. Die Regierungen der iberoamerikanischen Gemeinschaft haben sich als erste die Frage gestellt, welche Rolle die Kultur im wirtschaftlichen und sozialen Bereich spielt. Gleichzeitig fragt man sich, wie eben eine neue Gesellschaft begründet werden kann, eine neue Gesellschaft bezüglich der traditionellen Werte, die ohne Toleranz nicht bestehen kann. Ausgehend davon gibt die Charta Ziele vor, die die Regierungen verfolgen werden, um damit die kulturelle Vielfalt zu erhalten und zu stärken.

Lateinamerika ist eben ein Zusammenschluss verschiedenster Kulturen, der weltweit einmalig ist. Wo indigene, europäische, iberoamerikanische, afrikanische Menschen und Migranten zu finden sind. Lateinamerika ist ein Melting Pot, ein Schmelztiegel. Die Kulturen bereichern sich gegenseitig und haben ein Klima eines friedlichen Zusammenlebens geschaffen, was weltweit das intensivste ist. Natürlich gibt es Konflikte in Lateinamerika, ich behaupte jedoch, dass es grösstenteils ein friedliches Gebiet ist, weil die Kulturen den Dialog und das Zusammenleben angeregt, bereichert und Respekt sowie Toleranz gefördert haben.“

Enrique Iglesias im Instituto Cervantes Frankfurt

Einige Projekte sind bereits in Gang gekommen. So gibt es zum Beispiel ein Programm, das den Aufbau und die Entwicklung iberoamerikanischer Archive unterstützt. Es gibt ein Projekt „Iberomuseos“. Da geht es um Modernisierung und Entwicklung der Museen, um die Fortbildung des Personals und die Forschung. Im Rahmen von „Ibermedia“ sollen Kino-Vorführungen und Fernsehprogramme gefördert werden, um eine audiovisuelle iberoamerikanische Plattform zu schaffen. Koproduktionen und die Verbreitung von spanisch-portugiesischen und lateinamerikanische Filme sind geplant.

„Iberorquestas“, die so genannten Jugendorchester, fördern Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Ein konkretes Beispiel ist „La Sistema“ in Venezuela.

Mitglieder des Simón-Bolivar-Jugendorchester aus Venezuela bei der Verleihung des Frankfurter Musikpreises an José Antonio Abreu, Gründer und Motor von „La Sistema“, im Kaisersaal des Frankfurter Römers 2009

Iglesias: „Es fängt langsam an, dass die Länder die Kultur wertschätzen zum Beispiel im Bereich der Bildung. Sie ist ein wichtiger Teil der Kulturcharta. Wichtig, dass heute alle anerkennen, dass in der Alphabetisierung grosse Fortschritte gemacht wurden in Kuba, Venezuela, Bolivien, aber auch in den anderen Ländern.

Die Volkskultur ist Ausdruck der Kreativität der Gesellschaft. Das ist eine spontane Kreativität, zu der die Völker in Lateinamerika eine grosse Fähigkeit haben bei Musik, Tanz und Malerei.

Wichtig ist, dass die Kultur auch als Wirtschaftsfaktor anerkannt beziehungsweise wertgeschätzt wird. Denn die Kultur trägt heute in sehr grossem Masse zum Bruttoinlandsprodukt bei. Sie schafft Arbeitsplätze, fördert den Export und den Tourismus. Das heisst, abgesehen davon, dass die Kultur Ausdruck iberoamerikanischer Identität ist, darf man auch den ökonomischen Wert nicht vergessen. Alle diese Elemente sind deutlich spürbar geworden in Lateinamerika. Die Regierungen haben eingesehen und erkennen an, dass die Kultur auch Teil der politischen Entscheidungen sein muss und sie sie daher unterstützen müssen.“

Ein Ziel der Kulturcharta ist die Umsetzung der Menschenrechte und der kulturellen Rechte. Werden sie bei der Bevölkerung afrikanischer Herkunft genügend beachtet?

Iglesias: „Die afrikanische Kultur ist sehr bedeutend, ich verweise auf Brasilien, wo viele Menschen afrikanischer Herkunft sind. Um die 40 Prozent dürften dort ethnische und kulturelle Wurzeln in Afrika haben. Oder denken Sie auch an die Karibikstaaten. Überall sind Menschen dieser Herkunft zu finden. Uruguay, das eigentlich ein so genanntes weisses Land ist, hat immerhin noch 6 Prozent Menschen mit afrikanischem Ursprung. Die Verbindung mit der afrikanischen Kultur ist sehr intensiv, sehr reich. Sie hat einen grossen Einfluss auf die Musik, im ästhetischen Leben ähnlich den indigenen Kulturen. Auf diese Entwicklung in Lateinamerika ist man sehr stolz.“

Bei der Vielfalt der Sprachen, der Verschiedenheit der lateinamerikanischen Völker und ihrer wirtschaftlichen Unterschiede wird eine Einmischung durch die Kulturcharta in Bildung und Menschenrechte schwer sein.

Iglesias: „Sie haben Recht. Das allererste, was die Kultur getan hat, war, zur sozialen Kohäsion, zum Zusammenwachsen, ungeachtet der ethnischen und kulturellen Vielfalt beizutragen. Es kam zu einem sozialen Zusammenwachsen. Die iberoamerikanische Identität wurde geschaffen.

Wir haben schon die Erfahrung gemacht, wie hoch der Preis ist, wenn die Freiheit und die Menschenrechte verloren gehen. Wir haben schwierige Momente in der Vergangenheit erlebt, die wir jetzt allerdings überwunden haben. Die Leute wissen zu schätzen, welchen Wert Freiheit, Toleranz und Respekt haben. Es gibt immer noch Probleme in dem Bereich, es gibt allerdings grosse Fortschritte in dem Sinne, dass die Leute verstanden haben, dass sie das Recht auf Freiheit haben und dass man sie als Person respektiert.

Es gibt noch Gefahren, da muss man sehr aufmerksam sein, aber der Fortschritt ist gross.“

Katalog der Ausstellung „Verschwunden“

Wie gross die Gefahr ist, zeigte der Konflikt zwischen Venezuela und Kolumbien in diesem Jahr und, hochaktuell, der verhinderte Putsch in Ecuador.

Argentinien feiert in diesem Jahr sein 200jähriges Jubiläum der Unabhängigkeit, sein Bicentenario. Noch sind Wunden offen, Narben nicht geheilt, noch gibt es Gerichtsprozesse, die die Diktatur in Argentinien zwischen 1976 und 1983 aufarbeiten.

Der argentinische Pavillon auf der Buchmesse verschweigt diese Zeit nicht. Und in der Frankfurter Paulskirche ist seit dem 8. Oktober 2010 das Fotoprojekt „ausencias“ – „Verschwunden“ von Gustavo Germano zu sehen, das zuvor im Instituto Cervantes gezeigt wurde. Fast 30.000 Menschen wurden in den sieben Jahren verhaftet, entführt und verschwanden spurlos. Tausende wurden ermordet. Eine Ausstellung, die an die psychische Substanz des Betrachters geht.

Fotograf Daniel Mordzinski vor Bildern seiner Ausstellung „De tinta y Luz“ im Instituto Cervantes Frankfurt am Main

Die grosse kulturelle Leistung zeigt die neue Ausstellung „De tinta y luz“ im Instituto Cervantes: der in Paris lebende argentinische Fotograf Daniel Mordzinski ist ein Freund der Schriftsteller. Eine sehr persönliche Hommage. Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, dem soeben der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde, lobte 2008 die Zurückhaltung des Fotografen, der seine „Modelle“ nicht benutzt: „Vielmehr hilft er denjenigen, die er porträtiert, indem er versucht, ihr tief verborgenes Inneres aufzudecken, während er selbst hinter der Kamera zu verschwinden versucht.“ Dadurch haben seine Fotos eine überzeugende Authentizität.

Enrique Iglesias und Mercedes de Castro

* Nadine Mager ist Studentin der Angewandten Fremdsprachen (Spanisch, Russisch und Wirtschaft) in Gießen und Mexiko-City.

Comments are closed.