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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (8)

Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (8)

Erste Pause

Pause: Ich bewache den Ausgang, bis die Schüler ihren Müll aufgesammelt haben, wische dann die Tafel, treffe auf dem Flur dann den Kollegen C, den Klassenlehrer dieser X1, erzähle ihm den Vorfall mit K – nicht überraschend, der K nervt uns schon lange mit unmöglichem Verhalten, wir wollen ihn am liebsten abmahnen, wissen aber, dass man Schüler bei uns nicht so einfach ausschulen kann, dafür kriegen wir keine Unterstützung von der Schulleitung, also verabreden wir, dass ich die Eltern anrufe. Und dann die Rückmeldung des Kollegen C zu meiner zwölften Klasse: gerade im Englischunterricht habe der L laut gerülpst, worauf er ihn zusammengestaucht habe: mit seinen üblen Manieren sei L „bei der Bundeswehr gut aufgehoben“, aber wir könnten mit solchen Idioten nichts anfangen …
Im Lehrertrakt auf dem Weg zur Toilette werde ich zum Sekretariat abgerufen: Dort wartet ein bedröppelter K, hat Angst, dass ich zuhause anrufe, und ich fertige ihn kurz ab: Ja, ich würde anrufen, aber er sollte erstmal ein Protokoll schreiben, was er in der letzten Stunde gemacht hat! Ich lasse die Panzerglas-Trenntür, die den Lehrerbereich vor der freien Wildbahn schützt, vor K in die eiserne Zarge schnappen, wende mich ab, auf dem Weg zum Klo zapfe ich ein Glas warmes Wasser in der Küche, dort läuft der Kollege B vorbei und ermahnt mich, keine Schüler mehr zu ihm zu schicken: „Sie müssen diese Probleme selber lösen!“ – Bevor ich reagieren kann, ist er schon weitergegangen, ich gucke nicht mehr auf, damit mich niemand mehr anspricht, schaffe es endlich, ins Klo zu gelangen, stehe dort eine Minute pinkelnd und gleichzeitig trinkend, denkend: was mache ich denn in der nächsten Stunde? Die Pause ist schon vorbei, ich ziehe rasch den Klassenordner der 12 aus dem Regal, renne runter in den Keller, zu einem der widerwärtigsten Räume unseres hässlichen Stahlbetonbaus, begebe mich dorthin, wo das Licht nie ganz ausreicht, weil nicht alle Röhren funktionieren, wo die Wände zerbröseln, und wo die Autos bis in die Fenster hinein fahren – macht doch nichts, ich gehe gern in meine Zwölf.

3.+4. Stunde: 12 FOS I1

Die Klasse ist schon drin, ich frage, wer will referieren? Zwei Schüler sind für PoWi-Referate vorgesehen, beide sind anwesend, aber nur einer ist bereit. Also, der B soll referieren, dann machen wir das jetzt? Nein, er hat weder Laptop noch Beamer, das muss erst besorgt werden, dafür haben wir natürlich kein Medienzentrum, der Lehrer muss suchen, wo er so eine Garnitur findet, aber jetzt kommen noch zwei Praktikantinnen herein, richtig, das war so verabredet: die wollen im Deutschunterricht hospitieren. Also, dann machen wir jetzt Deutsch; PoWi ist dann in der nächsten Doppelstunde. Oh weia, das bedeutet, wir müssen den Lesetest schreiben, und ich springe auf, sage, ich muss den Test kopieren, bin gleich wieder da, hetze zum Kopierer, der nach der Pause zum Glück frei ist, jage die Dinger durch, stürme wieder in den Keller, verteile die Zettel, ermahne hier und dort; fünf Minuten haben sie Zeit zum Ankreuzen; nein, ich verrate nicht, wie viele Kreuze richtig sind, jedes falsche Kreuz ergibt einen Minuspunkt! Diese „schriftliche Überprüfung der Hausaufgabe“ soll dazu dienen, das Lesen der Schüler zu fördern: Vor ca. zwei Monaten habe ich den Schülern aufgegeben, „Jugend ohne Gott“ zu lesen, eine leicht eingängige, spannende Erzählung aus dem gesellschaftlichen Kontext des Dritten Reiches. Vor einer Woche habe ich einen Test über die Handlung der ersten Hälfe der Erzählung schreiben lassen – ist schlecht ausgefallen, warum, wer nicht gelesen hat, kann auch nicht die richtigen Kreuze setzen. Haben die Schüler diesmal gelesen? Der A stöhnt: Letztes Mal hatte er minus sechs Punkte, dieses Mal lässt er das Lottospielen lieber sein; er gibt ein leeres Blatt ab. Andere sind da sportlicher. Der Y knobelt, als er schon abgeben soll, immer noch, was er ankreuzen soll: Wer ist wohl der Jude oder die Jüdin?
„Bitte, Herr I, geben Sie mir einen Tipp!“
„Kreuzen Sie nur dann etwas an, wenn Sie sich sicher sind. Sonst riskieren Sie Minuspunkte.“
„Aber wer ist denn jüdisch? Gibt es in dem Buch überhaupt Juden?“
„Herr Y, das werde ich Ihnen gleich sagen wenn Sie abgegeben haben; jetzt entscheiden Sie sich, kreuzen Sie etwas an oder nicht!“
Herr Y seufzt tief, während seine Hand fahrig über das Blatt fährt, den Stift niedersenkt, wieder zurück zuckt, und schließlich ein Kreuz setzt. Er gibt ab.
Ich muss schmunzeln: „Mein lieber Herr Y, aus welcher Religion kommt wohl der Name Maria?“ – „Ist das keine Jüdin?“ – „Aber Herr Y! Maria ist die Mutter von Jesus, und wer glaubt daran?“ – „Die Juden!“ – „Nein, schreie ich, nicht die Juden, – die Christen!“
Der arme Y schreit auf: „Und wer ist dann jüdisch?“
„Gar keiner!“
„Warum lassen Sie mich dann so lange darüber nachdenken?“
Wir anderen sind herzlich schadenfroh, lachend hat die Gerechtigkeit gesiegt: Wer nichts gelesen hat, wer nichts weiß, kriegt seine Quittung!
Und warum hat der A immer noch nicht gelesen? „Wie kriege ich Sie denn zum Lesen?“ frage ich ihn.
„Geben Sie mir Zeit bis morgen, dann erzähle ich Ihnen alles, was im Buch passiert.“
„Gut, abgemacht, ich prüfe Sie morgen mündlich!“ – „Nein, lieber nächste Woche!“ – „Bis morgen lesen Sie. Es dauert höchstens sechs Stunden, das ganze Buch gründlich zu lesen. Das schaffen Sie bis morgen!“ – „Kriege ich dann eine 1?“ – „Ja. Sie kriegen dann eine 1, die genauso viel zählt wie der Test heute.“ – „Und wenn ich es nicht lese?“ – „Dann kriegen Sie morgen noch mal eine 6!“ – „OK, ich lese es.“

Ich nehme den Frontalunterricht auf, der in dieser Klasse ganz gut läuft, ich lasse mich ein wenig vor, vier, fünf, sechs Schüler arbeiten mehr oder weniger mit, der Rest stört nicht oder lässt sich leicht bändigen. Heißt also, dreiviertel der Schüler bleiben passiv; ob sie etwas dabei lernen, ist ihr Geheimnis. Höchste Zeit also für die Gruppenarbeit. Aber zuerst muss ich sie im Frontalunterricht genügend vorbereiten, sie lehren, analytisch zu denken und die Dinge auf den Begriff zu bringen. Auch wenn es nur sechs, sieben Schüler sind, die es verstehen, so können sie doch ihr Verständnis später in die Gruppen hinein tragen.
Wir klären den Handlungsverlauf, die Beziehungen zwischen dem Protagonisten und seinen Schülern, den fünf B’s, drei H’s, N, Z, T und wie sie alle heißen – da entsteht hinten im Saal Heiterkeit um den A: „Was gibt es da“, frage ich? Da raunt einer: „H und M!“ – „Ja und? Was ist mit den beiden?“ – Gekicher, auch von den Praktikantinnen: „C und A!“ – Jaja, ich hab’s gekriegt! Ein echter 12er-Witz! Aber einen A gibt’s gar nicht! Also, für die letzte halbe Stunde wenden wir uns ernsthaft der Interpretation zu …
Kurz vor Schluss bitte ich die Damen darum, uns eine Rückmeldung zu geben. Sie kichern, dann sagt die eine, dass sie mehr Lese-Leistung erwartet hätte.

Pause

In der Pause gehe ich mit dem B auf die Jagd nach Beamer und Laptop durch die ganze Schule; einige Schüler bleiben im Klassenraum, das ist nicht erlaubt, geht aber immer gut, was sollen sie hier auch zerschlagen oder klauen? Meiner 12 kann ich hier vertrauen, ja es tut mir geradezu wohl, in diese Klasse zu gehen, den Raum in ihrer Obhut zu lassen, ja, ich mag sie, sogar den aufsässig-devoten L.
Im Lehrerzimmer finde ich die Praktikantin, die im Unterricht nur gekichert hatte:
„Hallo“, frage ich sie: „Warum haben Sie der Klasse nicht gesagt, welchen Eindruck Sie von ihr hatten? Sie hätten durchaus mutiger sein können!“
„Das wäre mir zu peinlich gewesen, ich wollte nicht zugeben, dass ich über die Witze der Hinterbänkler lachen musste.“
Die Zeit drängt mich, im Klo noch pinkelnd ein Glas warmes Wasser runterzuspülen, dann kehre ich zurück in den Keller.

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