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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pisa von innen (3)

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Pisa von innen
Eine authentische Erzählung

von © Salias I.

Erster Teil (3)

Dienstag, 4.3.8

Halb betäubt würge ich den Wecker ab, schalte die Nachtlampe ein, bei schalem Licht versuche ich, die Augen offen zu halten, mich zu orientieren: Die Kopfschmerzen sind weg, das ist gut, heute acht Stunden Unterricht: sehr schlimm!
Du bist doch krank, raunt mir meine Frau zu; obwohl schlaftrunken sorgt sie sich: Ich solle nicht gehen! – Doch doch, es geht doch, ich muss gehen, murmle ich, ich bin ja wieder gesund. Den schlimmsten Tag der Woche habe ich hinter mir.

Am schlimmsten heute: die 10 X2 (da bin ich Klassenlehrer). Kollege B, der Stellvertretende Schulleiter, nannte meine Klasse beim Elternabend „die böseste Klasse, die wir seit Jahren hatten“. – Ja, das könne man doch nicht so hinnehmen, meinte eine der entsetzten Mütter. – „Da bleibt uns gar nichts anderes übrig“, sagte Herr B, „solche Klassen finden Sie an jeder Schule.“
Dass die Klasse besonders böse sei, stimmt nicht so ganz: Erstens haben wir jedes Jahr ähnliche Klassen, zweitens ist die Klasse ebenso wenig „böse“ wie ihre Schüler; man kann sie, wenn sie vereinzelt auftreten, sogar gern haben, ein jeder mit seinen Schwächen und Macken: Der A, der so Macho ist, dass er bei jeder kleinen Kritik, und sei sie noch so berechtigt, aufbraust, weil er von sich selbst nur die netten Teile wahrnimmt; der R, der noch stärker darin ist, seine provozierenden Bemerkungen gegen die Kameraden vor sich selbst zu verleugnen, und der K, der so von sich überzeugt ist, dass er jedem ins Wort fällt, der daran Zweifel aufkommen lässt und meint, sich an keine Regel halten zu müssen, wenn er sie nicht billigt. Und die vielen anderen Trittbrettfahrer der Selbstgerechtigkeit, die die narzisstischen Proteste dazu nutzen, ihren Beitrag dazu zu leisten, um das Chaos perfekt werden zu lassen – und so können dann der A und der K und der R auf die anderen zeigen und von sich ablenken. Diese negativen sozialen Synergie-Effekte sind es, die der Kollege B als „böse“ zusammenfasst. Dazu kommt der notorische Unwille gegen das Arbeiten. Weder in der Schule noch zu Hause wird gelernt. Sogar die Werkstattlehrer haben noch nie so viele Fünfer verteilt: Sobald sie der Gruppe den Rücken kehren, fallen die Werkzeuge aus den Händen. Natürlich sind an allem die Lehrer schuld: Wir leisten keine Einzelbetreuung, wir verlangen, dass ein Schüler sich selbständig bemüht, Arbeitsaufträge auszuführen oder zumindest beim Lehrer nachzufragen, wenn etwas nicht verstanden wird. Sie fragen nicht mal nach. Anfangs ist es mir passiert, dass ich eine halbe Stunde Gruppenarbeit angeordnet hatte, bis ich die Ursache des wachsenden Chaos herausfand: Mit dem Auftrag „Gruppenarbeit“ verbanden die Schüler offensichtlich Stammtischzeit. Keine bessere Erfahrung habe ich mit Einzelarbeit gemacht: Obwohl ich ankündigte, dass ich die schriftlich zu erbringende Leistung einsammeln und benoten würde, haben viele Schüler nur Unfug getrieben, und wen ich darauf ansprach, gab mir die Schuld: Ich hätte nicht erklärt, was sie machen sollen! In der Tat habe ich es nicht jedem Schüler einzeln erklärt, und wenn ich der ganzen Klasse etwas erkläre, fühlen sich viele Schüler gar nicht angesprochen – man kann ihnen nichts vorwerfen: Sie kriegen wirklich nichts mit! Und ein schriftlicher Arbeitsauftrag? Kein Ausweg, da bei vielen kein Textverständnis oder kein Wille dazu vorhanden …

In Anbetracht dieser Malaise hatten wir einige Klassenteamkonferenzen mit dem Beschluss, dass die schwierigsten Schüler Testatbögen führen sollen, um ihr Verhalten zu dokumentieren. Als ich den fünf Betroffenen die Bögen aushändigte, war die Empörung groß: Ungerecht! Warum denn ausgerechnet wir! In der ersten Woche wurde kein Bogen geführt, jetzt geht es mehr schlecht als recht.

Einmal auf dem Weg zum Raum 137 traf ich auf dem Flur eine aufgewühlte Kollegin A: Sie war auf der Flucht vor meiner Klasse: „Da gehe ich nicht mehr rein. Die sind unbeschulbar!“ – Schon lange ist bekannt, dass Berufsfachschüler kein Englisch können geschweige denn lernen wollen. So hat es die Kollegin besonders schwer. Ich schickte sie in die etwas nettere Klasse, aus der ich herkam und ging zu meinen verlassenen Schäfchen. Die saßen brav auf ihren Plätzen und klagten, warum sie mit dieser Lehrerin nicht zufrieden sind; aber sie gaben auch zu, sich nicht korrekt benommen zu haben. Um es konstruktiv zu wenden, wollte ich Regeln vereinbaren, und weil die Schüler keine Vorschläge hatten, schrieb ich an:

„1. Gegenseitiger Respekt Schüler-Lehrer. 2. Nach Abmahnung: Auszeit für Schüler. Note 6, Lehrer schreibt Protokoll“

Bloß juristisch geht das mit der Auszeit eigentlich nicht, da ich die Schüler beaufsichtigen muss; auch pädagogisch macht es keinen Sinn, sie rauszuschicken: Wohin sollen sie denn gehen? Keiner will sie haben, also bleibt ihnen nicht viel anderes übrig als Unsinn zu machen. Und zudem gab der N zu bedenken, dass es ungerecht sei, wenn der Lehrer Protokoll schreibt, da würde er ja alles verfälschen! – Gut, willigte ich ein, dann schreibt der Schüler während seiner Auszeit das Protokoll, und der Lehrer kann etwas hinzufügen.
Und in der Pause, als ich dem Kollegen B über den Vorfall rapportieren musste, freute ich mich über seine Unterstützung, indem er wegen der Aufsichtspflicht riet, man solle den Schüler zu ihm schicken, er würde den Protokollbogen abzeichnen, dann sei das in Ordnung. – Na prima, die X2 sollte kein Problem mehr sein.

Aber die erste Herausforderung dieses Tages werden die Elektriker sein, die meisten arbeitsunwillig in allen Fächern; obwohl schon im dritten Lehrjahr, hängen viele noch in den Seilen: ein Drittel kommt lieber etwas später, und ein Viertel überspringt die ersten zwei Stunden Deutsch vollständig. Letzte Woche begleiteten mich zwei Praktikantinnen zum Hospitieren, da haben sie den rechten Eindruck bekommen: Es war die abschließende Stunde zum Roman „1984“, den wir seit Monaten durchnahmen, sogar den Film hatte ich ziemlich früh bewilligt, aber nur häppchenweise, um zum Weiterlesen zu motivieren. Ich fragte nun, warum 1984 zur Weltliteratur zähle? Es war so, als hätten wir die erste und nicht die letzte Stunde über das Thema: Keine Antwort. Den Begriff Weltliteratur kannte keiner. Aber daran lag es nicht. Es ist jedes Mal so, als finge man von vorn an. Wozu sollen wir das machen, murrte einer, und ein anderer, mutiger:
„Was soll das überhaupt, dass wir ein Buch lesen müssen! Die Elektriker in der Parallelklasse machen das nicht. Die haben nie ein Buch gelesen. Macht ja auch keinen Sinn. Das ganze Fach Deutsch ist vollkommener Quatsch.“
„Ich bin dafür verantwortlich“, bekannte ich, „denn ich bin Deutschlehrer und halte es für wichtig, dass Sie nicht nur wie Roboter ausgebildet werden, die Leitungen legen können, sondern auch etwas menschliche Kultur mitkriegen.“
„Dafür brauchen wir doch nichts zu lesen!“
So kam ich in die Defensive, denn wir haben keine Deutschlehrer für alle Berufsschulklassen, und deshalb lesen die meisten Berufsschüler tatsächlich kein Buch. – „Beschweren Sie sich bei der Schulleitung“, entgegnete ich, in der Gewissheit, dass der Schulleiter die Kultur unterstützt. – Nun kuschten sie, und wir arbeiteten 1984 auf, ich erzählte ein bisschen über die Volkszählung, den Spaß am zivilen Ungehorsam, das alte und das neue BVG-Urteil, versuchte –vergeblich, auf die Gefahren des Datenmissbrauchs aufmerksam zu machen. Ein paar ließen sich auf eine Diskussion ein, ob man seine Daten beim StudiVZ preisgeben sollte – die Schüler meinten, das Internet sei ihr Freund, vor dem sie nichts zu verbergen hätten, und ich glaube nicht, dass ich ihnen diese Illusion nehmen konnte.
Die Studentinnen immerhin wirkten desillusioniert: Sie sahen ein, dass der Frontal­unterricht die ultima ratio ist, um so etwas wie eine Arbeitsatmosphäre halbwegs durchzusetzen, von Lernen ganz zu schweigen. Aber auch Frontalunterricht sei unglaublich schwer zu führen.
„Nun ja“, sagte ich, „man muss hart gesotten sein. Man darf nicht verzagen. Man muss immer wieder weitermachen.“

Was aber, wenn man doch verzagt?
Was, wenn man nicht mehr so tun kann, als komme man gegen die Widerstände an?

Schwarzer Morgen, schwarze Seele.

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1. + 2. Stunde: 12 FOS E1

Auf dem Weg zu den Elektrikern habe ich als Vorbereitung auf diese erste Stunde in Wirtschaftskunde nur das Buch, das mir der Kollege S gestern gegeben hat. Auf meine Kollegen ist Verlass! Sonst hätte ich jetzt nichts: Ich soll die Elektriker in Wirtschaftskunde unterrichten – dieses Fach ist mir, wie man so schön sagt, fremd, im Studium habe ich es nie berührt; schlimmer noch: betriebswirtschaftliche Rechnungen, Bestimmungen zu Ausbildungsverträgen, Betriebsverfassungsgesetze usw. interessierten mich bis vor einem halben Jahr überhaupt nicht.
Die Schüler aber sollten sich doppelt dafür interessieren: erstens kommt es in der Gesellenprüfung dran, zweitens betrifft sie es direkt – falls sie denn weiter als Facharbeiter beschäftigt werden. Ansonsten habe ich noch das Thema Sozialgesetzbuch hinzugefügt (mit HARTZ IV usw.).
Aus dem Inhaltsverzeichnis des Lehrwerkes von Koll. S lese ich die 22 Kapitelüberschriften vor, was ganz gut passt, denn jeder Schüler soll ein Referat übernehmen. Ich frage, wer was machen will, notiere mir Kapitel und Referenten auf ein Blatt, die Hälfte der Schüler wählt nichts; ich will sie zwingen, da fragt ein Schüler nach, ob sich sein Thema nicht mit dem eines anderen überschneide? Ich stutze – und muss ihm Recht geben, manche Kapitel sind inhaltsgleich, nur unterschiedlich formuliert, und plötzlich realisiere ich, dass der Inhalt des Buches gar nicht nach Themen gegliedert ist, sondern nach Muster-Prüfungssätzen – und jeder Prüfungssatz enthält mehrere Themen!
Meine ganze Referenten-Liste ist Makulatur! Wenn ich es nur mal vor dem Unterricht gelesen hätte. Wie ich mich schäme, so schlechten Unterricht abzureißen, ich glaube, so schlecht wie noch nie.

Aber vor dieser Klasse will ich meinen Fehler nicht entdecken; entschlossen verkünde ich: „Also, bis zum nächsten Mal werde ich die Referat-Liste tippen, und dann müssen sich die Schüler, die noch nicht gewählt haben, in die Lücken eintragen. Nun aber sollten wir damit anfangen, Grundsätzliches durchzunehmen. Dafür muss ich jetzt Lehrmaterial herbeiholen, ich komme gleich wieder.“
Eilig verlasse ich den Klassenraum, will in Raum 137, mal sehen, was sich dort holen lässt, aber unterwegs fällt mir ein, dass ich kürzlich entdeckt habe, dass in 129 alte Broschüren mit dem Titel „Sozialpolitik“ herumlagen – das wäre brauchbar! Tatsächlich liegen sie noch dort, ich packe den Stapel, bemerke auf dem Rückweg, dass es zwei Auflagen sind, eine von 2002, eine von 2003. Naja, vielleicht ist es nicht so schlimm, hoffe ich, und neue Scham will in mir hochsteigen, ich halte sie unten, schlage rasch die ersten Seiten der Broschüren auf, was können wir jetzt behandeln? und werfe die Dinger in der Klasse aus; sofort werden die verschiedenen Auflagen bemerkt und beanstandet, unverschämt bügele ich die Kritik ab, lasse Schüler vorlesen, unterbreche, wenn etwas zu erklären ist, frage nach Beispielen, referiere den historischen Hintergrund usw. – aber bald nervt es mich zu sehr: Normalerweise unterhalten sich unsere Russlanddeutschen nur leise und stören wenig; aber heute ist der J mal wieder da, das macht viel aus.
Das Problem mit dieser Clique ist, dass sie das Nichtstun zusammenschweißt. Nicht nur verweigern sie in Deutsch die Mitarbeit –allenfalls kriege ich einen mal dazu, ein Stück vorzulesen-, aber auch in den anderen Fächern lassen sie die Stifte liegen. Wenn sie fehlen oder still sind, kann ich damit leben. Nur heute nicht. Nach ein paar erfolglosen Ermahnungen stelle ich ihn zur Rede: Warum er denn überhaupt in den Unterricht komme?
Jetzt kommt der Russlanddeutsche K angeblich vom Klo zurück, in seiner Hand dampft ein in Papier gewickeltes Frühstück, und ich tue so, als käme er zu spät: „Ach, der K ist jetzt auch da, eine Dreiviertelstunde zu spät, das muss ich ja im Klassenordner eintragen!“
K protestiert: Er sei doch vorher auch da gewesen, ob ich ihn nicht gesehen hätte? Doch, ich habe ihn bemerkt, er war ja zu spät gekommen, ist aber noch als fehlend angestrichen, jetzt muss ich das als Verspätung umtragen, also 45 Minuten, weil er ja vorher nur geschwätzt hat und dann unerlaubt zur Frühstückspause abgewandert ist.
„Spinnen Sie“, faucht der K, „ich war nur 5 Minuten zu spät, und ich habe auch keine Frühstückspause gemacht, sondern bin nur auf Toilette gewesen.“ Die Russlanddeutschen pöbeln geschlossen gegen mich: das sei eine Unverschämtheit, man wolle sich über mich beschweren.
„Gut“, sage ich, „dann gehen Sie jetzt alle zum Schulleiter und beschweren Sie sich. Ich schreibe ein Protokoll, dann machen wir einen aktenkundigen Vorgang daraus.“
Sie sagen nichts mehr.
„Nun“, frage ich, „wer will gehen? Sie Herr J?“
Er wirkt unentschlossen, kann aber nicht mehr zurückziehen.
„Gehen Sie mit, Herr K“, sage ich, „hier schreibe ich Ihnen einen Meldebogen, den lassen Sie vom Schulleiter abzeichnen.“ Ich improvisiere einen Meldebogen, reiche den Wisch dem J, und sie ziehen ab.
Leider sind sie nach ein paar Minuten wieder zurück: Sie seien geheißen worden, in der Pause wieder zu kommen.
Ich lasse sie sitzen, sie unterhalten sich jetzt leiser, und der Frontalunterricht nimmt seinen langweiligen Fortgang, bis die Pause uns befreit.
Ich warte an der Tür, dass der letzte den Saal verlässt; will gar nicht wissen, nicht spüren, ob mein Ärger gegen die Schüler größer ist als meine Scham? Ich nenne es mal eine verdrießliche Mischung. Das Schloss springt zu, und ich kann alles hinter mir lassen.

Pause

Am Kopierer treffe ich auf M, meinen Referendar: „Jaja, ich bin ein schlechter Mentor“, sage ich und denke an meine vorige Stunde. „Ich kümmere mich viel zu wenig um dich“, entschuldige ich mich und überfliege eines seiner Arbeitsblätter: über Hooligans.
M ist gar nicht böse, er bedankt sich für meine Email mit Unterrichtsmaterial, das er gut gebrauchen könne, seine Ausbilder haben ihn gelobt. „Wo machst du denn das“, frage ich, auf das Arbeitsblatt deutend, „in der Zehn?“ – „Nein, in der Zwölf“, sagt er, und ich staune, frage nach, ob es nicht zu einfach für die Zwölfer wäre, ich würde erwägen, es im BGJ einzusetzen?
Ja, meint M, das stimme, aber es sei Teil verschiedener Lernangebote mit unterschiedlichem Anspruchsniveau. „Sozusagen als Intro.“
„Ist ja prima“ (mitsamt Neudeutsch), „ich sehe, du kommst bestens ohne mich zurecht, ich muss noch ins Sekretariat.“ Tatsächlich habe ich jetzt alle Zeugnisse zusammen, muss das letzte, das neu und richtig gedruckt vorliegt, nur noch stempeln gehen, aber zuallererst drängt der Gang zum Ein- und Auswässern …

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