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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Urlaubsbrief aus der Türkei / 6

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Erzählung

von © Robert Straßheim

(Erstes  Kapitel)   (Zweites Kapitel)   (Drittes Kapitel)  (Viertes Kapitel)  (Fünftes Kapitel)

Sechstes Kapitel

Sonntag Morgen

Gestern den ganzen Tag am PC, zum Glück kehrten die anderen sehr spät zurück, so dass ich in den Abend hinein arbeiten konnte. Unsere Gastgeber dachten, ich müsse traurig gewesen sein, weil sie mich allein zurückließen. Ich aber war vollkommen glücklich.

Vor ein paar Tagen hatte ich, vor lauter Verzweiflung, den Dahl weiter gelesen, und als der aus war, bin ich so tief gesunken, den Konsalik wieder aufzunehmen: Eine sowjetische Kommissarin verliebt sich in einen deutschen US-Agenten – mitten im Kalten Krieg. Der Panzer ihrer bolschewistischen Ideologie wird durchdrungen vom messerscharfen Verstand des Deutschen; ihre höhere Position außer Kraft gesetzt durch die natürliche Autorität des reinrassigen Ariers; ihr furchtsames Herz erobert durch seinen athletischen Körper. Die Russin gibt ihre Karriere, ihre kommunistischen Überzeugungen auf, und siehe da: Sie geht mit ihm in die Kirche – das letzte Mal war sie mit einer Kadergruppe in der Kirche, um die Rückständigkeit und Torheit der Gläubigen zu studieren. Jetzt, an der Seite ihres Geliebten, findet sie spontan ihren Glauben und fängt an zu beten. Was die Macht der Liebe nicht alles vollbringt!

– Ich wollte keine Seite weiter lesen.

Habe ich auch nicht mehr nötig. Es ist überstanden. Nun will Zara an den Strand, aber nicht nach Tekirdag, sondern sie nimmt vorlieb mit den Steinen – vom Fahren hätte sie genug! Zum ersten Mal seit langem sind wir uns restlos einig.

Zara ist sogar froh, dass ich gestern nicht mitgefahren bin: Den ganzen Tag mussten sie im Auto sitzen, und Zara sah sich genötigt, ans Sterben zu denken – was mich freut. Noch vor der Abreise hatte sie versucht, meine Sorge zu entkräften: Der Fahrer hätte als Pharma-Vertreter viel Erfahrung, weil er jeden Tag einige hundert Kilometer unterwegs sei. „Das sind die schlimmsten Raser“, bestätigte ich, und Zara nahm eine gehörige Portion Angst mit ins überladene Auto. Die Kinder zeterten und stritten sich um Platz, zu viert mussten sie sich die Rückbank teilen (die Männer vorn), und der Fahrer überholte, als wollte er den Tod.

Am Ziel gab es eine böse Überraschung: Der Enişte führte sie zu einer bekannten Familie, mit der er einen Besuch verabredet hatte; so saßen sie eine Stunde lang fest, mussten reden, das Meer vor Augen, und konnten nicht baden. Über Sehenswürdigkeiten haben sie sich nicht geäußert. Ein paar Photos habe ich gesehen vom kitschigen Hollywood-Nachbau des trojanischen Pferds. An Eindrücken und Erlebnissen blieb allein die Autofahrt haften.

Zuhause angekommen, hockten sich die Kinder sogleich vor den Fernseher, Abla und Zara kochten Bohnen, bereiteten Salat zu, ich setzte Bratkartoffeln auf. Die Familie, die sie besuchten, habe ihnen wider Erwarten nichts zu essen gegeben – ein schlimmer Affront, der Enişte sei sehr beleidigt, und Zara, ungnädig vor Hunger, stichelte gegen die „faulen Kinder“. Zila wehrte sich gegen die Vorwürfe, darauf stritten die beiden kurz und heftig, und für den Rest des Abends waren die Kinder nicht mehr gesehen.

Zila gilt als „unreif und zickig“. Zara ist enttäuscht, weil sie beide zu wenig Hausarbeit machen – sie tun ein wenig mehr als ich, und das gilt als „respektlos“. Dagegen der Schwager kommt vom Dienst, setzt sich an den blank geputzten Tisch, wartet, dass aufgefahren werde, was auch innerhalb von fünf Minuten passiert. Ich dagegen fühle mich nicht legitimiert, so bequem zu sein, habe ja auch keinen Dienst, und so koche und spüle ich, soviel wie mir erlaubt wird.

Montag

Heute morgen kam Zila nicht zum Frühstück: immer noch verstockt. Als später beide Kinder in der Küche kochten, drückte ich Zila einen Kuss auf die Wange, und weil sie sich so freute, bat ich um ein Glas Wasser, fragte, ob sie nicht ihre Musik anmachen würde (sie hörte morgens immer MTV). Sie wollte nicht.

„Are you worried?” fragte ich sie. „You should speak with Zara. Zara is not evil yet.“

Ich musste evil erklären: „bad, hard, weird“. Derweil kam Zara hinzu, und sie sprachen auf Englisch miteinander, bis sie sich wieder zum Türkisch überwanden (zu meinem Leidwesen).

Das Redigieren der Skripte erfordert viel Disziplin und Zeit. Die Zeit gibt es ja im Übermaß, und weil mich nichts ablenkt, fällt die Disziplin nicht schwer (ich mache ab und zu mal Pause, indem ich mir eines der Musikvideos anschaue, die mir Zila überspielt hat). Allerdings fehlen mir immer dringender die Fachbücher!

Zara fragte mich schon wieder, ob ich glücklich wäre, ich antwortete: Ja, wenn ich Bücher hätte, am besten die ganze Institutsbibliothek!

Heute habe ich fast nichts mehr zu lesen, da die Dörrie eiserne Ration bleibt bis zum letzten Tag. Jetzt bleiben mir nur fade Überreste des Greenpeace-Magazins über die Türkei – in den glücklichen Istanbuler Tagen hatte ich alles Interessante darin schon weggeschlemmt.

Zara tröstet mich damit, dass es schlimmer wäre, wenn wir keine Tütchen mehr hätten (davon hat sie reichlich eingepackt) – aber der Sex vertreibt einem bei weitem nicht soviel Zeit wie ein Buch – inmitten dieser Familie sind die intimen Stunden eher Minuten.

Ich werde nochmal in der Bücherei nachforschen, vielleicht kann ich mich mit meinem Englisch durchbeißen. Irgendwie muss ich bis Samstag ja überleben.

Dienstag

Wie ich Zara liebe! Stell dir vor, sie hat gestern Abend ein Buch für mich entdeckt! Ja, meine Zara macht mich glücklich – wenn man nur genug liebt, kommt irgendwann etwas zurück (nicht immer ein Baby): Als Zara nämlich im Koffer nach Tütchen suchte, fand sie in einer Inletttasche ein Taschenbuch, das ich für unsere erste Türkeireise vor zwei Jahren eingesteckt hatte. „Die Alchemie des Herzens“, von Reshad Feild. Damit hatte ich mich für die kulturelle Begegnung mit der Türkei wappnen wollen, denn der Brite Feild war Schüler eines Sufi-Meisters aus dem Mevlana-Orden, der in Konya ansässig ist. Zara kennt Konya als streng religiöse Stadt, und der Mevlana-Orden sei berühmt für seine kreiselnden, tanzenden Derwische, die Erleuchtung und Ektase suchen, aber als geistesentleerte Drehkörper-Attraktion an Touristen verschleudert werden.

Nein, für uns damals war der Sufismus kein Thema, die kulturelle Begegnung wurde eine Enttäuschung, und das ungelesene Buch geriet in Vergessenheit.

Nun aber entfaltet die Sufi-Mystik ihre wundersame Wirkung: Feilds Buch fällt wie ein Same auf meinen verödeten Geist; unter normalen Umständen hätte ich es längst weggelegt, da nur trockene, spirituelle Lehrsätze, zweihundert Seiten über alles, was im Leben sonst kaum zur Geltung kommt. Aber jetzt lese ich diese „Alchemie“ behutsam, beginne mit Kapitel 16, das mich am meisten anzieht, Thema: „Schmerz“ – jaja, ich habe mein Leiden gepackt, es heißt:

„Wir schaffen die Voraussetzung dafür, dass wir uns elend, aber zugleich wichtig fühlen können, dann bitten   wir all unsere Freunde um ihre Aufmerksamkeit und erklären: ‚Schaut mich nur an, wie schlimm alles für mich ist. Ich Armer.‘ Diese Art von Leid hat überhaupt keinen Sinn, und es wird nicht aufhören, bis der Betreffende erkennt, dass der Betreffende sein eigenes Buch schreibt. Es bringt keinem etwas.“ (S.147)

Sei mein Ego auch geprügelt, doch verstehe ich jetzt das alles – will dich aber nicht mit Psycho-Quark strapazieren, du kennst mich ja ohnehin und wirst als Psychologe gar nicht umhinkommen, diesen ganzen Brief gegen mich auszulegen.

Bei Feild aber dient die Psychologie nur als Einstieg in bedeutsamere Tiefen, die nur zu erahnen sind:

„Wirkliches Wissen können wir nicht erwerben. Wir können Buchwissen erwerben oder irgendetwas, was wir für Wissen halten, aber kein wirkliches Wissen, weil wirkliches Wissen uns durch unser eigenes Opfer im Dienen zuteil wird. Es wird uns gegeben, wenn wir von der Sehnsucht erfüllt sind zu dienen, weil es tatsächlich nichts anderes zu tun gibt. Es gibt nichts anderes zu tun als der Wahrheit zu dienen, und indem wir der Wahrheit dienen, wird uns die Wahrheit gegeben … Es beginnt mit der Verpflichtung.“ (S.143f.)

Ah, wie du weißt, hasse und liebe ich solche Texte, lese Seite für Seite, vor und zurück, streiche an, knicke Seiten ein, es ist eine Nahrung zum Klarwerden, provoziert zum Nachdenken, zum Erinnern, zum Analysieren des eigenen Lebens, und zum Planen. Deshalb geht die Lektüre sehr, sehr langsam vonstatten, und was könnte es jetzt besseres geben?!

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abends

Mein Dienen hier besteht vor allem darin, gute Laune zu haben. Zara lobt, dass meine Stimmung sich aufgehellt hätte, nun hätte sie kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich zu kurz käme. Ich ahnte gar nicht, dass sie das bedrückte.

Sozial kommt mein Feild nicht so gut an: Ich wollte Zara aus dem Buch vorlesen (ich dachte, weil du, lieber Markus, deinen Lieben stundenlang vorliest, wäre das eine gute Maßnahme zum Zeitvertreib), aber Zara unterbrach mich nach einer halben Seite: „Das ist langweilig. Leg das Buch doch weg!“ Auch im Gespräch gelang es mir nicht, Zara für solche Themen zu interessieren. Ist sie noch zu jung dafür? Zara meint, keiner hier würde über so etwas reden. – Auch nicht der Enişte? – Nein, was gäbe es darüber auch zu reden? Diese Familie sei eben nicht religiös. – Religiös? Welch ein Missverständnis. Doch ich frage sie nicht weiter und lese nur für mich.

Und für dich, lieber Markus, lese ich gleich mit, denn so gewissenhaft, wie du versuchst, die Folgen deiner Neigungen mit den Pflichten übereinzubringen, so viel Weile du dafür beanspruchst wie du selber Geduld für andere aufbringst, so gebildet wie du bist, humanistisch wie menschlich, so glaube ich, dass Feild auch dir aus der Seele spricht, wenn er Wahrheit von Bücherwissen unterscheidet und Aufmerksamkeit und Dienen lehrt, und so wollen wir nicht demnächst unser Ken-Wilber-Kolloquium fortführen?

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(Fotos: © Robert Straßheim)

(Siebtes Kapitel)

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