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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Urlaubsbrief aus der Türkei / 2

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Erzählung

© von Robert Straßheim

(Erstes  Kapitel)

Zweites Kapitel


Einen Tag später

Ich muss mehr schreiben! Gestern habe ich zuviel gelesen: Das dritte Buch ist aus. Was soll ich auch machen, am Morgen, am Strand, abends und in der Nacht? Ich muss meinen Geist, so lange als möglich, auf das Schreiben lenken – wie ich hoffe, zu deinem Vergnügen?

Ja, lieber Markus, was gibt es zu berichten? Gestern reisten Zaras Schwester Zelal und ihre Tochter Zila aus Malatya an: 18 Stunden im Bus bis Istanbul, dann noch mal drei bis vier Stunden bis Tekirdag, das ist die Kreisstadt.

Eigentlich lebt die Familie in Malatya, aber der Enişte hatte sich vor zwei Jahren auf diesen Direktorenposten beworben – in der Stadtverwaltung einer Kleinstadt bei Tekirdag. Er wurde tatsächlich befördert, und so zog er in diese Dienstwohnung hier ein; seitdem hat die Familie den 22-Busstunden-Spagat zu bewältigen.

Also, gestern Abend holte der Enişte Zela und Zila mit dem Auto vom Bus ab, und als nächstes sollten sie in einem Möbelgeschäft ein Schlafsofa aussuchen. Wo sollten wir auch alle schlafen? Zu sechst in einer Dreizimmerwohnung mit einem Doppelbett und einem Schlafsofa und keinem einzigen Kleiderschrank (hoffentlich heilsam für Zara)!

Um acht Uhr abends trafen der Enişte, Abla und Dila zu Hause ein – ohne irgendein Möbelstück. Ich fragte mich, wer auf dem Boden schlafen sollte? Zwei Stunden später erklärte mir Zara, warum sich außer mir niemand Gedanken mache: Das Problem sei gelöst, die hätten ja viel gekauft, und natürlich werde gleich geliefert. Wir brauchten nur zu warten, entzündeten alle Lampen, innen und außen, damit man uns fände!

Kurz vor Mitternacht fuhr der LKW vor, und zwei Möbelpacker schleppten zwei Sessel und zwei Sofas ins Wohnzimmer, wo sie bis nach ein Uhr werkelten, bis alles aufgebaut war.

Zara und ich haben ein eigenes Zimmer mit dem alten Schlafsofa, Dila und Zila schlafen auf den neuen Sofas im Wohnzimmer, das ein Durchgangszimmer ist, so dass ich die beiden morgens, auf dem Weg ins Bad, schlummernd vorfinde: die süßen Kinder, ihre dicken, straffen Gesichter schauen aus, als wären ihnen die Schnuller aus dem Mund gefallen, dabei sind sie 20 und 22 Jahre alt.

Wie haben sie uns geküsst! Zwei Jahre lang hatten wir uns nicht gesehen, seit unserer Hochzeit. Leider spricht Dila schlechter Englisch als letztes Mal – kein Wunder, sie studiert in Ankara Informatik, da braucht sie kein Englisch mehr. Dafür kann ich mich mit Zila jetzt besser verständigen, denn nach dem Abitur hat sie drei Jahre lang in einer Privatschule für die Uni-Aufnahmeprüfung gebüffelt. Zila habe ich eine CD von Frou Frou geschenkt, wir beide lieben diese amerikanischen Songwriter: Einst in Frankfurt hatte ich Zila an die Hand genommen, um mit ihr zu tanzen – sie hüpfte so schön. Jetzt aber bin ich zu schüchtern.

Zara hat meinen Brief gelesen und kritisiert: „Gözleme“ sei eine Teigware, die wir einst in Side aßen; die Frau heiße richtig Özlem. Vor allem empört sich Zara, dass ich so negativ über Istanbul schreibe. Mein Lob über das „Istanbul-Modern“-Museum will sie nicht gelten lassen: Das sei nichts Besonderes (das stimmt: nach globalen Maßstäben ist dieses Museum nicht erwähnenswert, aber innerhalb Istanbuls durchaus). Nun, ich gab zu: Der Kunst wegen wäre ich tausendmal besser in Frankfurt geblieben – ohne Zara wäre ich vermutlich niemals nach Istanbul gereist, niemals in die Türkei. Immerhin spendete mir die Kunst Trost, wo sonst manches trostlos war. Alles trostlos außer Zara.

Doch, zugestandenermaßen, da gab es noch etwas: etwas Universales, das mich, der ich in diesem Moment Weltenbürger war, berührte, in Istanbul; und so will ich, nicht nur Zara zuliebe, mich bemühen, es so einfühlsam zu schildern, wie es ihm gebührt.

Gleich am ersten Morgen geschah es, in aller Frühe. Gegen 4 Uhr waren wir gelandet und nahmen den ersten Bus stadteinwärts. Nach einer Nacht in der sterilen Flughafen-Flugzeug-Atmosphäre war ich gespannt auf dieses Morgenland, empfänglich saugte ich alles ein, was die graue Dämmerung zu enthüllen bereit war. Wir fuhren eine Küstenstraße entlang, die den Blick auf das Meer freigab, und selbst die Weite des Meeres wurde rundum wieder eingefangen von einem Horizont ferner Lichter. Stille waltete, begleitet vom tief summenden Bus, die Ruhe der frühesten Stunde war hin und wieder belebt von einem einsamen Auto, einem Fußgänger, über der Stadt lag unerschütterlicher Frieden, unten leuchteten rote Ketten winziger Begrenzungslämpchen aus dem Asphalt der Straßenränder, rasch glitten wir vorüber, durch weite, leere, von modernen Bauten gesäumte Straßen, ein römisches Viadukt ragte vor uns auf, dessen Pfeiler noch immer die Macht besaßen, die vierspurige Einfallstraße zu zerteilen, so dass der Bus abbremste, ein wenig auswich und frech sich hindurch quetschte. Äußersten Respekt hingegen bezeugte der Bus vor den erstaunlichen Erhebungen der innersten Kerns, um den er einen weiträumigen Bogen schlug: Dort oben erahnte ich jene heiligen Hügel der Stadt, diese runden Formen im Himmel: die Kuppeln der ewigen Moscheen, vom rosa Schimmer des Morgens zart beleckt: so schmiegten sie sich ins Herz und entführten es in grenzenloses Aufgenommen­sein, ehe ich wieder denken konnte.

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Nach diesem überwältigenden Blick in Ewigkeit musste die Stadt, bei Tage besehen, in Ungnade fallen: Wie sie ihre Schönheit prostituiert! Schande über sie! Die Ströme des motorisierten Verkehrs, die Unmassen an Menschen, allerorten Unrat, Armut, die misslungenen Versuche von Europäisierung – sie raubten ihr die Würde, sie zerbrachen mein Bild des märchenhaft schönen Orients, sie verhöhnten meine Liebe, und wie ein verstoßener Liebhaber grollte ich, verfluchte diesen Verrat an eine falsche, abgeschmackte Moderne. Wie also hätte ich positiv schreiben können, ohne meine Liebe zu verleugnen?

Das einzige, was mich jeden Tag erfreute, waren die Kedis (eigentlich heißt der Plural Kediler), die überall herumstreunen, meist abgemagert, weil sie sich aus Mülltonnen ernähren müssen. Leider verbot mir Zara, sie anzufassen, aber vor einem Schreibwaren-Laden habe ich doch eine dicke Kedi gestreichelt, die zwischen Karten und Papieren der Auslage schlief; hinterher mied es Zara, mich an die Hand zu nehmen – was mir nur recht war, weil dieses Händehalten nur dazu führte, dass die Innenflächen sich gegenseitig anschwitzten, so dass ich Zaras Hand immer wieder abschüttelte.

Gar nicht niedlich sind dagegen die Hunde, die ebenfalls wild herumlaufen. Sie gelten als gefährlich, und das will ich gerne glauben. Wenn man einen sieht, wechselt man die Straßenseite. Die Türken finden das normal. Aber warum wollen sie die Natur nicht beherrschen? Besteht nicht das Verdienst der Zivilisation darin, die Natur zu bändigen, die Wildnis außerhalb ebenso wie die Triebe innerhalb des eigenen Körpers?

Nein, es ist gut, fern von all diesem Wahnsinn zu sein.

Nächster Morgen

Wie ist das Leben hier mit Zaras Abla-Schwester Zelal (die Älteste), dem Enişte (Schwager), Dila und Zila, den zwei Nichten?

Außer dem Enişte reden alle unentwegt. Mit mir haben sie Mitleid. Weil ich nichts von ihrem Türkisch verstehe. Tatsächlich fühle ich mich manchmal einsam, würde gern mittun beim Erzählen, Necken, Spaßen und Schimpfen.

Besonders schade ist es mir um den Schwager, den ich gerne kennenlernen würde: Was ist dieser ruhige, schmächtige Mann, der hier als Beamter arbeitet, für ein Mensch? Er redet relativ wenig, also normal viel, er ist gegen die Regierung, gegen Nationalismus, aber er versieht zuverlässig seinen Verwaltungsdienst, sitzt pünktlich zu den Mahlzeiten am Tisch, auch mittags gesellt er sich zu uns, isst mit uns, trinkt mit uns Tee, während drüben scharenweise die Bittsteller auf ihn warten, bis seine Pause vorbei ist. Und er ist belesen! Welche Literatur bevorzugt er? Zara versorgt mich äußerst unzureichend mit Daten. Datenbeschaffung ist hier schwer, wenn man nicht redet.

Überhaupt hätte ich viele Fragen, existenzielle Fragen zu dieser seltsamen Kultur: In dieser Kleinstadt sitzen Dutzende Männer, alte, junge, tagtäglich am Straßenrand auf Stühlen, trinken Tee, rauchen, klönen oder tun einfach gar nichts. Kaum hundert Schritte entfernt der Strand. Warum baden sie nicht? Warum lesen sie nicht? Warum sitzen sie? Sind sie glücklich? Zara gibt mir keine Antwort. Sie ist von den anderen so in Beschlag genommen, dass sie komplexe Fragen nicht verarbeitet. Soweit ich es mitbekomme, handelt es sich bei der hiesigen Kommunikationspraxis überwiegend um impulsive, schnelle, flackernde Wortwechsel. Nur der Enişte lässt sich für seine Antworten Zeit – vielleicht bleibt er deshalb außen vor und ist froh, wenn er zum Dienst gehen kann? Vielleicht sitzen die vielen Männer deshalb auf der Straße? Doch auch Zaras Brüder sind eifrige Plapperer.

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Vielleicht ganz gut, dass ich nichts davon verstehe. So werde ich nicht genervt, sondern bin frei, abzutauchen: in die Bücher, zum Schreiben, oder in mich selbst.

Vorgestern lag ich am Strand, der mit faustgroßen Steinen bedeckt ist, die ich mir halbwegs ebnete; doch spürte ich auf den drückenden Kieseln meine Zerbrechlichkeit und fragte mich, was mit mir anzufangen wäre?

Sonne und Müdigkeit wirkten auf mich ein, ich ließ es geschehen, und irgendwann war die Erinnerung da: der erste Urlaub, den ich mit Eltern, Großmutter, Onkel und Tante in Dänemark erlebte. Das Schönste daran waren nicht das Meer mit seinen gewaltigen Wellen, nicht die riesigen gelben Dünen oder die Tatsache, dass drei Wochen lang die ganze Familie zusammen war; es waren die mitgebrachten LEGO-Kästen und der Tisch draußen im Garten, an dem ich die Modelle zeichnete, die ich bauen wollte. Nun aber wollte ich mir mein Glück neu erschaffen. Gleich nach der Rückkehr habe ich nach einem Tisch gesucht, doch in der ganzen Wohnung gibt es nur einen Wohnzimmertisch, der unentbehrlich ist, da er zugleich als Esstisch dient. Nach einiger Überlegung habe ich das Bügelbrett umfunktioniert: der Bügeltisch ist mein Schreibtisch, und ich nutze ihn weidlich. Wie weit das Glück aus der Kindheit ins spätere Leben hinauszugreifen vermag! Wieviel öfter folgen wir anderen Emotionen als dem Glück: dem Ärger, dem Groll, der Trauer, der Angst. Dabei haben wir ja die Wahl.

Vorhin fragte mich Karicigim besorgt, ob ich mich langweile. Ich schüttelte den Kopf ob ihrer Unwissenheit: Wie kann ich mich langweilen, wenn ich Stift und Papierblock habe? Sobald möglich, eile ich an den Schreibtisch, oder ich lese. Allerdings erledige ich als wohlerzogener Mann vorher den Abwasch – die Nichten sind glücklich, wenn ich sie vor dem Küchendienst rette, Abla gesellt sich dazu und zeigt mir, wie sie den Schaum weg­gespült haben will. Der Enişte dagegen hält sich grundsätzlich von der Küche fern.

Was war mein Wunsch, den ich diesmal mit dem Schreibtisch verband? Keine Baupläne zu zeichnen, sondern Schaubilder für den Unterricht! Es sind nicht meine ersten Semesterferien als Dozent, in denen ich an die Uni denke – aber diesmal nicht mit Schrecken, sondern mit einer gewissen Neigung. Mir scheint, dass ich ganz gern in die Uni zurückkehren, mich in den Betrieb dort stürzen werde, um meine Lehre darin zu entfachen! Auf dass wir alle aufleben, lernen und Spaß dabei haben. Jetzt will ich mehr Struktur in die Inhalte bringen, von Anfang an Orientierung geben, und das erfordert durchdachte „Baupläne“. Allerdings fehlt mir zur geflissentlichen Ausarbeitung hier die Fachliteratur. Wenn ich wenigstens mein Notebook und einen Internetzugang hätte. Mit den hier vorhandenen steinzeitlichen Mitteln muss mein Konzept rudimentär bleiben. So ein Urlaub ist der Qualität der Lehre absolut abträglich.

Lieber Markus,

ich hoffe, deine Arbeit ist fruchtbarer? Bist glücklich in Frankfurt? Hast doch alles, was du brauchst! Dienst brav der Welt und deinen Klienten!? Deine Beziehungs-Turbulenzen sind abgeflaut? All deine geborenen und ungeborenen Kinder gedeihen? Die Aussicht in deine Zukunft unvernebelt? Die Liebe in Harmonie gebettet?

Das alles glaube ich von dir nicht. Gerade deshalb bist du ja ein so faszinierender Mensch, den ich gern bald wieder sehen möchte!

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(Fotos: © Robert Straßheim)

(Drittes Kapitel)


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